Interview: Frederick Kaufman:Als die Wall Street Menschen hungern ließ

Vor zwei Jahren stiegen die Preise für Nahrungsmittel dramatisch an - vor allem Weizen verteuerte sich. US-Publizist Frederick Kaufman macht dafür großen Banken verantwortlich.

Hans von der Hagen

Die Geschichte der Nahrungsmittel habe 1991 eine unheilbringende Wendung genommen - schreibt Frederick Kaufman in der Titelgeschichte des renommierten amerikanischen Harper's Magazine. Es sei das Jahr gewesen, in dem Goldman Sachs entschieden habe, dass das tägliche Brot ein exzellentes Investment sein könnte. Kaufman wirft indes nicht nur Goldman Sachs, sondern allen großen Wall-Street-Banken vor, dass sie den Unterschied zwischen Virtualität und Realität nicht mehr erkennen. Das sei vor allem dann gefährlich, wenn Millionen Menschen deswegen Hungern müssten - wie es 2008 der Fall war.

Interview: Frederick Kaufman: Frederick Kaufman, Publizist, schreibt unter anderem für das "Harper's Magazine".

Frederick Kaufman, Publizist, schreibt unter anderem für das "Harper's Magazine".

sueddeutsche.de: Herr Kaufman, Sie sagen, dass die Wall Street Millionen Menschen Hunger leiden ließ. Warum ist die Börse in den USA für Versorgungsprobleme in tausenden Kilometern Entfernung verantwortlich?

Frederick Kaufman: Im Sommer 2008 stiegen die Nahrungsmittelpreise auf breiter Front: Milch, Brot, Fleisch - alles wurde teurer. Die Preise stiegen seit 2005 um mehr als 80 Prozent. In gut 30 Ländern gab es Unruhen. Viele machten für die Preisexplosion sinkende Vorräte verantwortlich. Doch mittlerweile wissen wir, dass das nicht der Fall war. Nahrungsmittel waren im Überfluss vorhanden. Die Welt könnte die doppelte Anzahl von Menschen ernähren. Das Problem lag nicht in der Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln, sondern in den Kosten für die Nahrungsmittel. Banker von der Wall Street und aus anderen Geldhäusern haben offensichtlich die Preise in die Höhe getrieben.

sueddeutsche.de: Aber Banken brauchen keinen Weizen ...

Kaufman: Sie haben künstliche Nachfrage geschaffen, indem sie es Anlegern ermöglichten, in Rohstoffe wie Weizen zu investieren. Das funktionierte vor allem über Indexfonds, die schon Anfang der neunziger Jahre aufgelegt worden waren - begünstigt vor allem durch die Deregulierung der Märkte, die noch von der Reagan-Administration angestoßen worden war. Damals entdeckten Geldhäuser wie Goldman Sachs, dass mit Finanzprodukten auf die Preisentwicklung von Nahrungsmitteln spekuliert werden konnte. Die Banken gingen dafür sogar zur Aufsichtsbehörde, der Commodities Futures Trading Commission. Die sollte ihnen eine Ausnahmegenehmigung für eine Regel geben, die schon seit 1936 galt - und den Zugang von Finanzinvestoren zum Markt für Nahrungsmittel limitierte.

sueddeutsche.de: Wie investieren Anleger in Rohstoffe?

Kaufman: Beispielsweise über Futures. Das sind alte Finanzinstrumente, die Unternehmen eigentlich gegen Preisänderungen wappnen sollen. Nahrungsmittelkonzerne wie Nestlé oder Kraft, die viel Weizen kaufen, möchten sich Preise für die Zukunft sichern, um besser planen zu können. Das funktioniert über solche Futures. Doch nach und nach begannen Goldman und Banken wie JP Morgan Chase, Deutsche Bank, AIG, Lehman Brothers und Bear Stearns mit den Rohstoff-Indexfonds zu experimentieren. Das waren sogenannte long-only, "Nur-kaufen"-Fonds. Das bedeutete: Sie kauften immer nur Weizen-Futures - verkauft wurde nie. Das ist die Essenz der Geschichte.

sueddeutsche.de: Aber die Nahrungsmittelpreise stiegen erst mehr als ein Jahrzehnt nach Einführung dieser Instrumente derart stark an. Warum so spät, wenn sie so problematisch waren?

Kaufman: Noch 2003 steckten nur bescheidene Summen in diesen Indexfonds - ganze 13 Milliarden Dollar. Doch fünf Jahre später waren es bereits 318 Milliarden Dollar. Das hat den Nachfrageschock ausgelöst. Ein Grund dafür waren die globalen wirtschaftlichen Probleme und die Verluste in vielen Segmenten des Finanzmarkts - zum Beispiel im Immobilienbereich. Die Anleger flohen aus diesen Sektoren und suchten vermeintlich sicherere Nischen für ihr Kapital. Dazu gehörten die Rohstoffe. Deren Preise entwickeln sich oft gegenläufig zu den Kursen an der Börse - und sie bieten einen gewissen Schutz vor Geldentwertung, da die Rohstoffpreise mit der Inflation steigen. Darum strömte das Kapital in den Markt für Weizen - und sorgte dort für Chaos.

sueddeutsche.de: Der Anstieg der Nahrungsmittelpreise war Fehlern im System geschuldet?

Kaufman: Ja, man kann nicht Spekulanten dafür verantwortlich machen und die Banken haben auch nicht absichtlich die Preise nach oben getrieben. Es hat nur im Vorfeld keiner überlegt, was passieren würde, wenn derartig viel Geld in diese Fonds fließen würde. Ich werfe Banken vor, dass sie den Unterschied zwischen Virtualität und Realität nicht mehr wahrnehmen. Sie haben gelernt, aus allem Geld zu machen, das ist ihr Geschäft. Nur tun sie es auch mit Nahrungsmitteln - und vergessen dabei, dass Menschen diese zum Essen brauchen. Banken müssen begreifen, dass ihre Produkte nicht nur mathematische Formeln sind, sondern ihr Tun Konsequenzen in der Wirklichkeit hat. Viele Banker sagen: Das war toll, wir hatten damals einen großartigen Lauf. Global gesehen war es eine Tragödie.

Verhängnisvolle Rollbewegung

sueddeutsche.de: Normalerweise kaufen Investoren, wenn der Preis tief ist - und verkaufen, wenn der Preis nach oben geht. Doch sie sagen: Das Geld kam nur herein. Warum?

Getreideernte in Sachsen auf Hochtouren

Als die Preise für Weizen 2008 drastisch zulegten, gab es in vielen Ländern Unruhen: Zahlreiche Menschen konnten ihr Essen nicht mehr bezahlen.

(Foto: ddp)

Kaufman: An der Börse können Sie Aktien kaufen und ein Leben lang halten. Am Rohstoffmarkt geht das nicht. Man kann nicht Weizen kaufen und ihn über Jahre im Depot aufbewahren. Aber die großen Investoren wollen so in Rohstoffe investieren wie in Aktien - professionelle Anleger wie Pensionsfonds haben ein Zeitfenster über 20 Jahre. Darum fanden die Banken einen eleganten Weg, wie solche Investments möglich werden. Nicht, in dem sie tatsächlich Weizen kaufen und verkaufen, sondern indem sie lediglich versprechen, Weizen in Zukunft zu kaufen: Die Anleger kaufen dazu einfach die Future-Kontrakte - die normalerweise eine kurze Laufzeit haben - und tauschen sie immer wieder durch neue Kontrakte aus. So werden die Kaufversprechen unendlich weitergerollt - ohne dass sie je erfüllt würden.

sueddeutsche.de: Sie greifen besonders die Bank Goldman Sachs an, die einen für dieses Marktsegement besonders wichtigen Rohstoffindex entwickelte. Goldman schrieb in einer Stellungnahme zu Ihrem Artikel, dass Untersuchungen der OECD gezeigt hätten, dass Index-Fonds die Preisblase bei Rohstoffen nicht verursacht hätten. Täuscht sich die OECD?

Kaufman: Goldmans Antwort auf meinen Artikel würde keinen Fakten-Check überstehen. In dem Report wird gesagt, dass es einen "signifikanten Anstieg von Investments im Markt für Agrarderivate aus nicht-traditionellen Quellen gab, entweder zur Diversifizierung oder zur Spekulation ... das hat zu dem Anstieg der Preise bei kurzlaufenden Futures geführt und ist ein zusätzlicher Faktor bei den gegenwärtigen Preissprüngen".

sueddeutsche.de: Viele Experten argumentieren, dass die Preisentwicklung beim Weizen zu allererst den ungewöhnlich niedrigen Lagerbeständen geschuldet war. Ist das verkehrt?

Kaufman: Wenn Sie mit Händlern reden, dass sagen die Ihnen: Es waren die Biotreibstoffe, da für ihren Anbau die Fläche für den Weizen schrumpfte. Andere sagen, es war die außergewöhnliche Dürre in Australien. Wieder andere behaupten, die Überschwemmungen in Kasachstan seien Schuld gewesen. Aber: Es hat auch schon früher schlechtes Wetter gegeben, nur hat es in der 150-jährigen Geschichtes des Weizenmarktes noch nie Preissprünge wie die in 2008 gegeben. Da mussten schon andere Kräfte wirksam werden. Und das war das hereinströmende Kapital in Höhe von mehreren 100 Milliarden Dollar. Es ist gar nicht verkehrt, die niedrigen Lagerbestände anzuführen - aber es ist nur ein Teil der Wahrheit.

Was gegen die Preissprünge hilft

sueddeutsche.de: Ganz aktuell werden Weizen und Kakao deutlich teurer. Ist das vergleichbar mit den Ereignissen 2008?

Kaufman: Ich denke, es ist nicht vergleichbar. Schnell werden die bösen Spekulanten für alles verantwortlich gemacht. Aber es gibt sie zu Recht und ich glaube, dass sie dem Markt Liquidität zuführen. Was derzeit bei Kakao passiert, sieht eher nach dem klassischen Versuch aus, den Markt aufzukaufen. Dahinter steckt nichts als menschliche Gier. Mit anderen Worten: Jemand gibt Milliarden Dollar für Kakao aus, um den Preis in die Höhe zu treiben. Dafür gibt es aber die klassischen Verteidigungsinstrumente. 2008 stiegen zwar die Preise so, als würde jemand den Markt aufkaufen. Doch das war nicht der Fall, sondern die Struktur der Finanzprodukte hatte nur einen ähnlichen, wenngleich viel wuchtigeren Effekt.

sueddeutsche.de: Könnten sich die Ereignisse aus 2008 wiederholen?

Kaufman: Trotz der neuen US-Regularien und auch, wenn sich etablierte Wirtschaftsmagazine wie Bloomberg Business Week mittlerweile gegen die Rohstoff-Indexfonds wenden - die Märkte sind weiterhin gegen den Missbrauch verwundbar.

sueddeutsche.de: Was kann gegen die Preissprünge bei Nahrungsmitteln wie Weizen getan werden?

Kaufman: Regulierung hilft nicht. Hedgefonds-Manager können da nur lachen. Die lästern, dass in Fragen der Regulierung die Regierung fünf Jahre hinterherhinkt. Die einzig wirklich hilfreiche Lösung wäre eine reguläre Weizenreserve. Deren Bestände könnten notfalls auf den Markt geworfen werden, um Anleger zu beruhigen.

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