Internationaler Währungsfonds: Vorstoß:Mehr Inflation riskieren

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Revolutiönchen in Washington D.C.: Der Internationale Währungsfonds spielt das Szenario einer Inflation von vier Prozent durch - um vor Krisen besser geschützt zu sein.

Nikolaus Piper

In der Finanzkrise haben die Notenbanken die Wirtschaft mit Geld überschwemmt. Viele Ökonomen fürchten daher eine Teuerungswelle. Jetzt sorgte der Internationale Währungsfonds (IWF) für eine Sensation und erklärt vier Prozent Inflation für erstrebenswert. Den Deutschen stehen unbequeme Debatten bevor.

Inflationsrate im Überblick - zum Vergrößern bitte auf die Lupe klicken. (Foto: Graphik: SZ)

Es ist eine kleine Revolution: Der IWF, bis vor kurzem noch prinzipienfester Streiter für Stabilität, will mehr Inflation zulassen. Der Chefvolkswirt des Fonds, Olivier Blanchard, legte den Notenbanken nahe, ihr Teuerungs-Ziel von zwei auf vier Prozent zu erhöhen. Das Arbeitspapier unter dem Titel "Makroökonomische Politik neu denken" stellte der IWF vorige Woche auf seine Internetseite. Autoren waren, neben Blanchard, die beiden IWF-Ökonomen Giovanni Dell'Arricia und Paulo Mauro. Es hieß zwar, der Beitrag gebe nur die Meinung der Autoren wieder und sei keine offizielle Position des IWF. Der Warnhinweis dürfte jedoch eher formeller Natur gewesen sein. Tatsächlich war der Text so prominent platziert, dass jedermann klar sein musste: IWF-Direktor Dominique Strauss-Kahn unterstützt ihn.

Der IWF greift damit in eine der brisantesten ökonomischen Fragen der Gegenwart ein. Noch herrscht zwar in allen Industrieländern Geldwertstabilität, doch die ist bedroht, wenn es den Notenbanken nicht gelingt gegenzusteuern, wenn die Kreditnachfrage wieder anzieht. Die Angst vor der Inflation zeigt sich zum Beispiel im Goldpreis, der seit Wochen über 1000 Dollar liegt. Und jetzt erklärt ausgerechnet der IWF, dass Inflation gar nicht das Problem ist, sondern ein Teil der Lösung. Wenigstens ein bisschen davon.

Die Inflationsdebatte wird allein schon durch die riesigen Staatsdefizite angeheizt, die im Zuge der Finanzkrise aufgelaufen sind. Der Harvard-Ökonom Kenneth Rogoff glaubt, dass die Steuern in den USA um 30 bis 50 Prozent steigen müssten, um den Haushalt mittelfristig zu sanieren. Da dies keine Regierung durchsetzen könne, sei Inflation der einzige Ausweg.

Fehlschlag Eurozone?

Noch kritischer ist das Thema für die Eurozone. Blanchards Vorgänger als IWF-Chefökonom, der MIT-Professor Simon Johnson, glaubt, dass der Euro ohne mehr Geldentwertung nicht überleben wird. In einem Beitrag für das Wall Street Journal schrieb Johnson: "Die Europäische Zentralbank sollte ihre Politik korrigieren, die Zinsen weiter senken und höhere Inflation in der Währungsunion zulassen. Wenn dies für den germanischen Kern nicht hinnehmbar ist, dann sollte Berlin/Frankfurt zugeben, dass die Eurozone selbst ein Fehlschlag ist."

Dabei geht es um das Grundverständnis der deutschen Politik. Zweimal während des 20. Jahrhunderts haben die Durchschnittsbürger in Deutschland fast ihre gesamten Ersparnisse verloren - erst in der Hyperinflation des Jahres 1923, dann bei der Währungsreform von 1948. Das hat sich in das kollektive Gedächtnis der Nation eingegraben. Es waren die Deutschen, die während der Inflationswelle der 70er Jahre die Wende zu mehr Stabilität einleiteten: Am 5. Dezember 1974 verkündete die Deutsche Bundesbank in Frankfurt ihr neues Geldmengenkonzept und wurde so zu einer der mächtigsten Institutionen in Europa.

Im August 1979 folgten die Amerikaner den Deutschen. Der Chef der Federal Reserve in den USA, Paul Volcker, unterzog die Wirtschaft einer Rosskur mit Zinsen von bis zu 20 Prozent. Bundesbank und Fed hatten letztlich Erfolg mit ihrer Politik und alle waren sich einig, dass sie die richtigen Lehren aus der Geschichte gezogen hatten: Inflationserwartungen müssen erstickt werden, sobald sie auch nur zu ahnen sind.

Im Laufe der Jahre bildete sich dabei ein Konsens unter Notenbanken heraus: Der Geldwert ist dann hinreichend stabil, wenn die Inflationsrate "unter zwei Prozent" liegt, wie es in der offiziellen Formulierung der Europäischen Zentralbank (EZB) heißt. Dass EZB und Fed nicht das scheinbar Naheliegende wählten, nämlich eine Inflation von null Prozent, hat einen klaren Grund: Wenn das Preisniveau in normalen Zeiten überhaupt nicht steigt, dann droht es in schlechten Zeiten zurückzugehen, und das ist noch gefährlicher als Inflation. Wenn die Preise sinken, und alle erwarten, dass sie noch weiter sinken werden, entsteht eine deflationäre Spirale, die in die Katastrophe führen kann.

Genau hier setzt Blanchard mit seinem Papier an: Aus der Finanzkrise zieht er den Schluss, dass zwei Prozent Sicherheitsabstand zur Deflation nicht reichen. Die Notenbanken sollten "in normalen Zeiten ein höheres Inflationsziel anstreben, um den Raum für die Geldpolitik im Falle von Schocks zu erhöhen". Dieses Ziel solle bei vier, statt bisher zwei Prozent liegen.

Negativbeispiel Japan

Den Vorschlag begründet er so: Wenn die Teuerung sehr niedrig ist, sind notwendigerweise auch die Leitzinsen der Notenbanken niedrig. Damit haben sie weniger Spielraum für Zinssenkungen, wenn es ernst wird, denn unter 0,0 Prozent kann ein Zins nicht sinken. "Die Krise hat gezeigt, dass negative Schocks möglich sind. In dieser Krise kamen sie vom Finanzsektor, aber sie könnten in Zukunft auch woanders her kommen - von den Auswirkungen einer Pandemie auf den Tourismus oder den Folgen eines Terroranschlags auf ein wichtiges Wirtschaftszentrum." Als warnendes Exempel sieht der Ökonom die japanische Wirtschaft, die seit ihrem Schock, dem Zusammenbruch der Immobilien-Spekulation zu Beginn der 90er Jahre, mit Deflation und Stagnation kämpft.

Das IWF-Papier zeigt, wie sehr Finanzkrise und Rezession das Denken unter den Eliten der Finanzwelt verändert haben. Bis 2007 galt als größte wirtschaftliche Gefahr die Rückkehr der 70er Jahre, also die Kombination von hoher Inflation und sehr niedrigem Wachstum. Im Herbst 2008 haben alle erlebt, dass eine Wiederholung der viel schlimmeren Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre nur knapp vermieden werden konnte. Die Risiken von Inflation und Deflation werden daher völlig neu austariert. Die Federal Reserve, die EZB und die Bank von England überschwemmen die Märkte mit frischem Geld. An der Spitze der Fed steht mit Ben Bernanke ein Professor, der seine ganze akademische Karriere der Erforschung der Weltwirtschaftskrise und der Großen Depression widmete. Das bleibt nicht ohne Folgen.

Für die Deutschen ist der Perspektivwechsel besonders konfliktträchtig. Sie hatten die D-Mark 1999 nur unter der Bedingung geopfert, dass der Euro mindestens so stabil wie ihre alte Währung wird. Daher wurde die EZB ausschließlich auf das Ziel der Geldwertstabilität verpflichtet und nicht, wie die amerikanische Federal Reserve, auch auf das des Wirtschaftswachstums. Jetzt wird diese Stabilitätskultur von einigen plötzlich als Problem gesehen.

Für sich genommen sind vier Prozent Teuerung für eine Volkswirtschaft nicht wesentlich schlimmer als zwei Prozent. Die große Frage ist, ob man das noch steuern kann, wenn das Tabu einmal gefallen ist. Setzt dann nicht ein Prozess ein, der Inflationserwartungen weckt, die sich irgendwann selbst erfüllen? Darauf wies der Stanford-Professor John Taylor hin, einer der führenden Geldtheoretiker der USA: "Wenn sie vier Prozent sagen, warum nicht fünf oder sechs Prozent?", sagte Taylor dem Wall Street Journal. "Wenn von null Prozent Inflation die Rede ist, verstehen das die Leute."

Nicht ohne Nebenwirkungen

Blanchard selbst räumt durchaus Risiken seines Vorschlags ein. Man müsse "die Liste der Vorteile und Nachteile von Inflation sorgfältig durchsehen", heißt es in seinem Papier. Unter anderem schlägt er vor, Steuersysteme inflationsneutral zu machen, damit die Abgabenbelastung der Bürger nicht ausufert. Er preist die Unabhängigkeit der Notenbanken als "historische Errungenschaft". Und er schlägt weitere Maßnahmen vor, um Krisen vorzubeugen. So sollten Bankenregeln "antizyklisch" gestaltet werden: In guten Zeiten müssten die Institute mehr Kapital vorhalten als in schlechten. Der wichtigste Inhalt des Papiers bleibt aber der Tabubruch in Sachen Inflation.

Wichtig sind dabei auch Personen. Olivier Blanchard, 61, ist französischer Staatsbürger und lehrte am Massachusetts Institute of Technology (MIT), ehe er zum IWF geholt wurde. Er gilt als "Neo-Keynesianer", also als ein Ökonom, der die Lehren von John Maynard Keynes mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen der letzten 30 Jahre verbinden will. Derzeit ringen die Neo-Keynesianer mit Monetaristen wie John Taylor um die Meinungsführerschaft in der Deutung der Finanzkrise. IWF-Direktor Strauss-Kahn, 61, hatte in den 90er Jahren als französischer Finanzminister maßgeblich an der Vorbereitung des Euro mitgewirkt. Er könnte Gerüchten zufolge im Jahr 2012 gegen Nicholas Sarkozy für das Amt des Staatspräsidenten in Paris kandidieren. Nicht auszuschließen, dass er die Frage einer weniger orthodoxen Geld- und Finanzpolitik in Europa zum Thema macht.

© SZ vom 16.02.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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