Industrie:Urbane Fabriken

In Innenstädten gibt es kaum noch Industrie, die Produktion wurde meist vor Jahrzehnten ausgelagert. Doch nun siedeln sich wieder Betriebe an - das liegt nicht nur an anderen Herstellungs­verfahren.

Von Jochen Bettzieche

Mitten in Kreuzberg, wenige Meter vom Oranienplatz und nur ein paar Hundert Meter vom Landwehrkanal entfernt, fertigt das Unternehmen Mykita Brillen. Auf 4500 Quadratmetern, verteilt auf fünf Stockwerke, in einem denkmalgeschützten Gebäude. Das produzierende Gewerbe kehrt zurück in die Stadt, prognostizieren visionäre Stadtplaner und Ingenieure. Moderne Fertigungstechniken machen es möglich. Zudem werden Innenstadtlagen für Arbeitnehmer attraktiver.

In vielen Metropolen ist heute ein Großteil des produzierenden Gewerbes ausgelagert, meist an den Stadtrand, oft sogar ins Umland. "Gewerbegebiete entstanden vielfach Mitte der 1970er-Jahre, vorzugsweise im suburbanen Raum", sagt Marion Klemme, Referatsleiterin im Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung in Bonn. Das Institut befasst sich unter anderem mit der Frage, wie die Stadt der Zukunft aussehen wird. Gerade moderne Produktionsverfahren böten die Chance, Fertigungsprozesse wieder in die Städte zu holen. Kleinere, saubere Produktionsanlagen und 3-D-Druck hätten in frei gewordenen Innenstadtlagen Platz gefunden, sagt Klemme: "Individualisierte Konsumgüter werden vor Ort produziert und in kürzester Zeit an den Endkunden übergeben."

Neue Verfahren wie der 3D-Druck verursachen kaum Emissionen

Damit das langfristig funktioniert, sollten bereits heute Neubauten entsprechend geplant werden, fordert Stefan Werrer, Professor für Städtebau am Fachbereich Architektur an der Fachhochschule Aachen: "Wir benötigen zum Beispiel Gebäude mit höheren Erdgeschosszonen, um flexibler zu sein und dort nicht nur Wohnnutzung, sondern auch Gewerbe und Produktion zu ermöglichen."

Manche Unternehmen braucht man gar nicht anzulocken. Sie sind nie aus der Stadt ins Umland gezogen und dienen jetzt als Vorbilder. So steht der Spaziergänger in der Wiener Wilhelminenstraße, gerade mal vier Kilometer von der Hofburg entfernt, vor dem Stammsitz des Unternehmens Manner. Seit mehr als 130 Jahren befindet sich die Immobilie im Firmenbesitz. Hier entstehen unter anderem die "Neapolitaner", für die das Unternehmen bekannt ist. Mitten in der Stadt backen Mitarbeiter dünne Waffeln, rühren die Haselnuss-Kakao-Creme an, setzen alles zusammen, verpacken es und schicken die Ware hinaus in die weite Welt. "Wir arbeiten im Schichtmodell rund um die Uhr, zum Teil auch am Wochenende", erklärt Vorstandsmitglied Albin Hahn, zuständig für Finanzen und Personal. Bis zu 200 Tonnen der Waffeln kommen an einem Tag aus den Maschinen.

Sicherlich ein Vorteil ist, dass bei der Produktion von Süßwaren wenig Emissionen entstehen. "Es gibt allerdings auch produzierendes Gewerbe, das nicht stadtverträglich ist, das können wir nicht ändern", sagt Werrer und nennt als Beispiel Ölraffinerien. Gerade die chemische Industrie setzt häufig Gerüche frei, die Anwohner als unangenehm empfinden. "Anstelle einer Eckkneipe eine kleinteilige Produktion mit chemischen Prozessen im Erdgeschoss anzusiedeln, ist trotz aller Schwierigkeiten der Branche, verfügbare Flächen zu finden, derzeit schwer vorstellbar."

MYKITA GmbH, Brillenherstellung Berlin

Brillen aus Berlin: Das Unternehmen Mykita produziert mitten in Kreuzberg. Zentrale Lagen machen die Firmen auch für die Mitarbeiter attraktiver. Das Foto entstand noch vor der Corona-Krise.

(Foto: Mykita GmbH)

Ein Hindernis auf dem Weg zur urbanen Produktion ist auch die aktuelle Rechtslage. Es gibt Gewerbegebiete und Industriegebiete. Aber der Begriff des produzierenden Gewerbes ist im Planungsrecht nicht definiert, sodass immer mehr Dienstleister in die Gewerbegebiete ziehen, dort die Preise in die Höhe treiben und Fertigungsanlagen vertreiben. Der Gesetzgeber hat auch deshalb 2017 das urbane Gebiet eingeführt, das eine bessere Mischung von Wohnen und Gewerbe ermöglichen soll.

Es ist ein Geben und Nehmen, wie das Beispiel Manner in Wien zeigt. So speist das Unternehmen die Abwärme aus den Backöfen in ein lokales Fernwärmenetz ein. Etwa 600 Haushalte und Betriebe profitieren davon. Im Gegenzug müssen die Anwohner mit den Lkw leben, die täglich zwischen sieben und 18 Uhr das Werk ansteuern und verlassen.

Büromieter und Industriebetriebe rücken wieder näher zusammen. So entstehen bunte Quartiere

Die Nachbarn einbinden hilft. Beispielsweise bieten Mikrobrauereien Braukurse an oder führen die Anwohner durch den betriebseigenen Hopfengarten. Einfacher wird es, wenn die Produktionsstätte den Nachbarn zugutekommt. Hier bietet der 3-D-Druck große Chancen. Werrer vergleicht das mit den Copyshops: "Als die aufkamen, konnten Menschen gängige Publikationsarten wie Druckereien umgehen und selbst publizistisch tätig werden." Ein großer 3-D-Drucker könnte Kühlschränke, Autos und Fahrräder herstellen, nennt er ein Fernziel: "Aber sicherlich noch nicht in den kommenden 20 Jahren."

Andere Gewerbe sind jedoch heute schon so weit. Insbesondere der Sektor Gesundheit und Orthopädie, sagt Christoph Herrmann, Professor für Nachhaltige Produktion und Life Cycle Engineering und Leiter des Instituts für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik der Technischen Universität Braunschweig sowie Leiter des Fraunhofer-Instituts für Schicht- und Oberflächentechnik: "Die Kunden wollen passgenaue Prothesen, Implantate und Einlagen sofort und nicht lange darauf warten." Moderne Maschinen ermöglichen das. In den USA hätten sich bereits um zahlreiche Krankenhäuser herum spezialisierte Betriebe mit eigener Sofort-Fertigung niedergelassen.

Ein anderes Beispiel hat Herrmann in der Schweiz entdeckt. Dort hat ein Kaufhaus einen Schreiner in die Verkaufsräume integriert. Es ist ein bisschen wie eine Mischung aus Meister Eder und Star Trek. An Ort und Stelle werden die Möbelstücke gesägt, zusammengesetzt und verpackt. "Es ist einerseits back to the roots, in einer vorindustriellen Zeit produzierte das Handwerk nah am Kunden, andererseits wird aufgrund des Einsatzes von Hightech die Herstellung als Produktionsprozess verstanden", sagt Herrmann.

Carlswerk Köln

Im Carlswerk in Köln wurden früher Kabel produziert. Heute gibt es auf dem Areal neben Büros auch moderne Industriebetriebe.

(Foto: Jens Küsters/Beos AG)

Unternehmen haben weitere Vorteile, wenn sie in der Stadt produzieren. Zum einen stärkt es die Marke. Wien, München, Berlin als Ort der Herstellung klingt besser als Hintertupfing oder Krähwinkel. Der zweite Vorteil ist, leichter neue Mitarbeiter zu finden. Die Nähe zu Schulen und Kindergärten sowie die einfache Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln seien ein Bonus, sagt Manner-Vorstandsmitglied Hahn: "Aber auch die Möglichkeit einer besseren Work-Life-Balance, wenn ich nicht täglich ein bis zwei Stunden im Auto oder Zug sitze und nach der Arbeit direkt in der Umgebung Fitnessstudios, Restaurants und Ähnliches habe."

Langfristig könnte der Trend zur urbanen Produktion die Beliebtheit von Wohnlagen verändern. "Der Stadtrand verliert seine Vorteile, denn in der Stadt habe ich kürzere Wege und ein vielfältiges Angebot", sagt Herrmann. Auch ökonomisch sei die Entwicklung interessant. "Kleinteiligere und dezentrale Fertigung ist robuster, als wenn es nur eine oder wenige zentrale Weltfabriken gibt", erklärt der Wissenschaftler. Zudem sieht er einen ökologischen Effekt. Denn die neuen Technologien erlauben eine individuellere Produktion. "Auf lange Sicht wird die Maßanfertigung Mainstream, dann wird die Bindung an ein Produkt größer und nicht mehr so viel weggeworfen", ist er sich sicher.

Werrer ergänzt einen weiteren Punkt. Wenn die Bevölkerung nicht mehr jeden Morgen in die Gewerbe- und Industriegebiete pendeln muss und abends zurück, dann entsteht weniger Verkehr und damit gibt es auch weniger Emissionen. "Wir haben ein Mobilitätsproblem, weil Mobilität zu billig ist", erklärt er.

Als positives Beispiel für Planungen von Stadtvierteln nennt er das Werksviertel in München: "Hier sind Gebäude mit einer flexiblen Nutzungsmischung aus arbeiten und wohnen entstanden." Solche nutzungsoffenen Strukturen seien gefragt.

Ein ganz anderes Beispiel ist das Carlswerk in Köln. Hier wurden früher Telefonkabel produziert. Seit etwa zehn Jahren baut der Entwickler Beos AG das Areal behutsam um, verwandelt alte Werkshallen in Bürogebäude, Restaurants oder Kultureinrichtungen. Dabei bleibt nicht nur viel von der alten Industriearchitektur erhalten. Auf dem Areal gibt es auch produzierende Betriebe, die zum Beispiel moderne Kunststoffteile oder Trampoline herstellen. "Wenn sich die möglichen negativen Begleiterscheinungen von Produktion - wie Lärm, Abgase und starker Lkw-Verkehr - in Grenzen halten, ist Produktion eine hervorragende Ergänzung für gemischte Gewerbequartiere", sagt Martin Czaja, Sprecher des Vorstandes der Beos AG. Im Gegensatz zum früheren Bild der rauchenden Schlote sorge die "Industrie zunehmend für saubere Produktionsprozesse". Weil es also nicht mehr viel raucht und stinkt, ist ein neues Nebeneinander von Produktionsbetrieben und Büros möglich.

Herrmann führt als Utopie die "Mc-Fabrik an". Darin bilden Maschinen selbständig je nach Bedarf eine Prozesskette. Technisch ist das schon heute machbar. Diese Mc-Fabriken können dann auch kleine Losgrößen wirtschaftlich fertigen. "Wegen der Skaleneffekte war kleinteilig bislang nicht Mainstream, aber das ändert sich", erklärt der Wissenschaftler und verweist auf das australische Unternehmen Dresden Optics aus Sydney. In dessen Läden wählt der Kunde aus wenigen Rahmen und Bügeln seine gewünschte Kombination. Die Optiker vermessen dann den Abstand der Pupillen. Danach dauere es noch 15 Minuten, verspricht Dresden Optics, bis die Mitarbeiter die Linse zurechtgeschnitten und eingesetzt haben. Das reicht nicht mal für einen Großeinkauf, höchstens für einen Besuch des nächst gelegenen Cafés. Und das liegt in der Innenstadt meist nur wenige Meter entfernt. Noch ein Vorteil der urbanen Produktion.

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