Hamburger Hafencity:Ohne Klinker geht es nicht

Es sollte ein Projekt von visionärer Kraft werden. Doch die Architektur der Hamburger Hafencity ist nicht mutig, sondern ein schwacher Abklatsch der Bauweise des frühen 20. Jahrhunderts.

Till Briegleb

Jörn Walter hatte einmal einen schönen Traum. Im Jahr 2002, als die Hamburger Hafencity fertig konzipiert war, aber noch keine Baugrube sich auftat, schrieb der Oberbaudirektor dem Projekt einen Prolog voller Begeisterung: Er wünsche sich, dass dies riesige Bauvorhaben den "kreativen Kräften der Gesellschaft den notwendigen Spielraum zu ihrer Entfaltung" gebe und die "Architektur erneut jene visionäre Kraft entwickeln möge, wie sie einst die Architekten und Künstler des frühen 20. Jahrhunderts hatten."

Hamburger Hafencity: Hommage an die Architekten der frühen Hamburger Moderne: die Hafencity bei Nacht.

Hommage an die Architekten der frühen Hamburger Moderne: die Hafencity bei Nacht.

(Foto: Foto: AP)

Heute, nachdem sechs Jahre intensiv gebaut wurde und dieser Tage das erste zusammenhängende Viertel der Hafencity auf dem Dalmannkai fertiggestellt ist, kann Jörn Walter als kuriert gelten. Nicht nur, dass von visionärer Kraft in der Hafencity wenig zu spüren ist. Der frustrierte Prometheus einer neuen Architektur wurde auch noch still und leise zum Propagandisten der alten Strukturen.

Hamburgs architektonischen Knebel der vergangenen Jahrzehnte, den Ziegel, erklärt der Stadtplaner mittlerweile zur neuen Poesie. Und maßvoll eigenwillige Neubauten genehmigt Walter nur ausnahmsweise, und bezeichnet sie dann noch etwas abfällig als "Ausreißer".

Nur zweieinhalb dieser "Ausreißer" gibt es in dem ganzen Viertel im Schatten der Elbphilharmonie: Ein weißer Solitär von LOVE-Architekten/Graz und üNN-Architektur und Stadtplanung/Hamburg und ein rot-weißer Wohnturm verkleidet mit perforierten Blechen von SML Architekten, der mit dem Bild verrutschten Frachtguts spielt.

Der dynamische Entwurf eines Stilwerk-Appartementhauses durch Spine 2 aus Hamburg zählt höchstens halb, da er in der Realisierung sein energisches Erscheinungsbild der Hamburger Krankheit geopfert hat: der Formdiät.

Obwohl der größte Teil des 100 Hektar großen Gebietes auf den Kaianlagen des alten Hafens in keinerlei räumlichem Bezug zur bestehenden Stadt steht, sind spielerische und freiere Umgangsformen mit dem Stadtbild hier tabu. Stattdessen herrschen in der Hafencity humorlose Regeln bei Fassadenmaterial und Form.

Wenige starke Ausnahmen

Angeblich um ein Band zur "historischen Stadt" zu knüpfen - die jedoch nach Bombenkrieg und diversen Wiederaufbauwellen keinerlei stilistische Einheit mehr aufweist - werden den Architekten Gebäudekleider vorgeschrieben, die ein homogenes Erscheinungsbild suggerieren sollen.

Diktatur des rechten Winkels, Klinker- und Natursteine in den verschiedensten Rot- und Gelbtönen und Lochfassaden im Nähmaschinen-Rhythmus prägen das Bild und ergeben dabei eine maßvoll erneuerte Retroversion von Fritz Schumachers Backsteinmoderne von vor neunzig Jahren.

In der spöttischen Bezeichnung vom architektonischen "Würfelhusten", die der Hamburger Architekt Hadi Teherani für diese benutzerfreundliche Langeweile geprägt hat, ist das Kränkelnde dieser Stadtvision auf den Punkt gebracht. Nicht ein "Projekt Zukunft auch in architektonisch-künstlerischer Hinsicht", wie Walter es 2002 beschwor, ist das Leitbild dieser Hafencity, sondern ein stadthistorischer Selbstbetrug.

In Hamburg baut man für eine "heile" Vergangenheit, die man nach zahlreichen Zerstörungsakten vermisst, statt für eine Zukunft, die von Vielfalt geprägt sein könnte. Statt der Visionskraft des frühen 20. Jahrhunderts hat man nun den Abklatsch der Architektur dieser Zeit.

Zwar sind einige zeichenhafte Sonderbauten in der Entwicklung: die Elbphilharmonie von Herzog & de Meuron, Rem Koolhaas' Science Center, falls man sich dazu durchringen kann, diesen exzentrischen Container-Ring auch tatsächlich zu bauen, oder die bewohnte "Living Bridge" über die Elbe von Hadi Teherani, deren Realisierung aber an den unwahrscheinlichen Komplettumzug der Universität nach Wilhelmsburg geknüpft ist.

Nur werden auch alte Viertel nicht nach der Schönheit ihrer Kirchen beurteilt, sondern nach der Attraktivität ihrer Straßenbilder. Und in diesem Punkt herrscht in den Hafencity substantielle Feigheit vor der Gegenwart sowie eine merkwürdige Liebe zum Kitsch: Die Freiraumgestaltung besteht aus Plätzen, die wie Teletubbie-Land in Beton gegossen aussehen sowie Hochwasserschutzmauern mit Teppichmustern aus Ziegel.

Natürlich hätte es weit schlimmer kommen können. Der Mangel an Begeisterung im künstlerischen Erscheinungsbild macht zwar die architektonische Zwischenbilanz enttäuschend, und auch die Aussicht auf die banale Rotklinkerarchitektur der zentralen Viertel ist das Gegenstück zu Walters einstigem Traum.

Chance auf normales Leben

Aber der gleiche Hang zum vernünftigen Mittelmaß, der zu der drögen Stadtbildkosmetik geführt hat, sorgt auch dafür, dass in vielen strukturellen Entscheidungen Fehler vermieden wurden.

Die Dichte und Kleinteiligkeit der Baufelder und die Mischung der Nutzer zwischen Penthouse-Bewohnern und Genossenschaftsmietern, also die konservative europäische Stadtentwicklungsidee, mögen der Hafencity langfristig eine lebendige urbane Atmosphäre schaffen - wenn die prognostizierten 70.000 Tagestouristen später nicht genauso viel Lärm und Dreck verbreiten wie die Baumaschinen jetzt.

Für die Chance auf normales Leben in der Hafencity spricht auch, dass die Befürchtung, der neue Stadtteil werde nur von Reichen als Drittwohnsitz missbraucht, sich offensichtlich nicht erfüllt. Wirklich Vermögenden ist die Hafencity nicht exklusiv genug, berichten Makler, und die höchsten Gewerbemieten werden auch nicht hier erzielt, sondern in St. Pauli, Hamburgs Ausgehviertel.

Trotzdem ist die Hafencity ökonomisch ein Erfolg. Laut offizieller Quellen ist die Vermarktung eine Sensation und auch von Baustopp ist bei keinem Projekt die Rede. Doch was sagt dieser Zuspruch aus über die Mentalität der Nutzer? Ist die Sehnsucht nach Gewöhnlichkeit, die sich hier materialisiert, vielleicht eine gesunde Reaktion auf die beschleunigte Exzentrik der Bilder und Bauten, die man weltweit beobachten kann?

Aus dieser Perspektive mag das Beharren auf dem Schlichten, Biederen und Nützlichen sogar etwas Visionäres sein. Wer allerdings andere Visionen hat, der muss in Hamburg - frei nach Helmut Schmidt - auch weiterhin zum Arzt gehen.

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