Süddeutsche Zeitung

Gründe für die Marktpanik:Anatomie des Börsencrashs

Wer glaubt, nur die Schuldenkrise sei verantwortlich für die Börsenturbulenzen, irrt sich gewaltig. Schuld sind nicht zuletzt Tücken der Börsentechnik, menschliche Ängste - und die Hedgefonds, die auf Gelegenheiten wie jetzt geradezu warten. Die Hintergründe des Crashs: Darum kollabieren Kurse tatsächlich.

Harald Freiberger

Am Freitag gingen die Aktienkurse zum fünften Mal in Folge auf Talfahrt. Selbst die Besonneneren unter den Börsianern nehmen inzwischen, obwohl sich die Werte zwischendurch erholten, das Wort "Panik" in den Mund. Panik heißt, dass irrationale Mächte am Werk sind und der Verstand der Akteure ausgeschaltet ist. Aber wie kommt es dazu? Unabhängig von den Fakten - Schuldenkrise und Konjunktureinbruch - haben Wissenschaftler und Händler Erklärungen gefunden: Eine Panik an der Börse hat zum Teil psychologische Ursachen, zu einem noch größeren Teil aber technische.

Nicht der Kleinaktionär macht die Kurse, das tun professionelle Anleger wie Versicherungen und Investmentfonds, die auf einen Schlag oft gleich Millionen Aktien verkaufen", sagt Daniel Fehring, der lange Händler auf dem Börsenparkett war und sich inzwischen auf Charttechnik spezialisiert hat. Er untersucht Kursverläufe in der Vergangenheit und leitet daraus Gesetzmäßigkeiten ab, um künftige Entwicklungen vorherzusagen. Ist die Börse erst einmal in den Abwärtsstrudel geraten, verstärken Profi-Anleger diese Entwicklung noch. "Alle Investmentgesellschaften haben interne Limits, wie viel Verlust ein Fonds maximal machen darf", sagt Fehring.

Außerdem wird in jedem Börsenprospekt der maximal erlaubte Verlust angegeben. Das Risikomanagement achtet darauf, dass dieses Limit nicht erreicht wird. "Wenn Aktien tagelang gesunken sind, schlägt der Risikomanager beim Händler auf und sagt: Du musst jetzt Positionen verkaufen", sagt Fehring. Dieser Effekt führt dazu, dass die Spirale nach unten noch verstärkt wird. Nach und nach springen auch Investoren ab, die noch mehr Risiko zu tragen bereit waren.

Wenn ein Verlust eine bestimmte Prozentzahl erreicht, kommt es bei vielen Investoren zu automatischen Verkäufen", sagt Markus Glaser, Professor für Kapitalmärkte an der Universität München. Solche mechanistischen Handelsmodelle, die per Computer programmiert werden, führten zu einem sich immer weiter verstärkenden Prozess. Nicht zufällig fällt der jüngste Absturz gerade in die Urlaubszeit. "An den Börsen wird im August üblicherweise eher unterdurchschnittlich viel gehandelt, bei geringen Umsätzen können einige wenige Akteure die Kurse stark bewegen", sagt Glaser.

Eine wichtige Rolle in dem Spiel fällt dem zu, was Charttechniker "Unterstützungslinien" nennen. Das sind Kursstände, die sich aus einem früheren Kursverlauf errechnen, oder einfach glatte Zahlen wie beim Deutschen Aktienindex (Dax) die 7000 Punkte. Fällt eine Aktie oder ein Index unter die Linie, geht es oft noch weiter nach unten. Das liegt daran, dass viele Börsianer darauf achten und Investoren auch ihre Computerprogramme danach ausrichten. Die Charttechnik funktioniert wie eine Prophezeiung, die sich selbst erfüllt: Weil viele davon wissen und davon ausgehen, dass auch andere sich danach richten, wird verkauft.

Hedge-Fonds wetten auf den Kursrutsch

Ab einem bestimmten Punkt betritt zudem eine Spezies das Börsenparkett, die die Abwärtsspirale weiter verschärft: nicht regulierte Hedge-Fonds, die darauf spezialisiert sind, solche Situationen auszunutzen. "Die lauern nur auf Gelegenheiten wie diese", sagt Fehring. "Wenn das Tier einmal angeschossen ist, wird es gejagt, bis es umfällt." Spätestens als der Dax unter 7000 Punkte gefallen war und die Stimmung im Markt immer noch schlecht war, empfanden das die Hedge-Fonds als klares Signal, auf einen weiteren Kursrutsch zu setzen.

Das Mittel dazu sind die aus der Finanzkrise bekannten Leerverkäufe: Ein Investor verkauft Aktien, die er gar nicht besitzt (daher: leer), an eine Gegenpartei. Er hofft darauf, dass der Kurs sinkt. Tritt das ein, kann er die Aktien später billiger zurückkaufen und den Gewinn einstreichen. Solche Wetten gegen Aktien drücken auf die Kurse.

Wolfgang Sperling, Professor an der Psychiatrischen Uniklinik Erlangen, sieht Parallelen zwischen der gegenwärtigen Wirtschaftskrise und Angstpatienten mit Panikattacken. "Es gibt einen realen Hintergrund für die Erkrankung, die hohe Verschuldung", sagt er. Der Umgang damit aber sei irrational. Statt das Problem an der Wurzel zu lösen, steigere man sich in immer größere Panik. "Einem Angstpatienten gibt man in einem solchen Fall erst einmal ein starkes Beruhigungsmittel zur akuten Entlastung", sagt der Psychiater. Danach aber müsse man beginnen, am Problem zu arbeiten. "Immer größere Rettungsschirme wirken nur vorübergehend, müssen in immer höheren Dosierungen gegeben werden, um wieder zu wirken und erzeugen dabei das Risiko einer Abhängigkeit."

Nötig wäre es aber, dauerhaft an der rationalen Ursache des Problems zu arbeiten, also die Verschuldung konsequent zu senken. Stattdessen aber laufe in einer Endlosschleife der gleiche Mechanismus ab wie bei einem Panikpatienten: Das Problem taucht auf, es gibt eine beruhigende Sofortmaßnahme dagegen, die Aufmerksamkeit wird danach wieder abgelenkt, es kommt zu Desinteresse, doch das Problem wirkt im Hintergrund weiter und kommt bei der nächsten Panikattacke umso wuchtiger zum Vorschein. Ein Börsianer an der Wall Street stellte in diesen Tagen die Frage: "Wenn die Schulden das Problem sind, warum macht man dann immer mehr davon?"

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SZ vom 06.08.2011
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