Goldman-Chefvolkswirt im Interview:"Die Erholung steht auf dem Spiel"

Der Deutsche Jan Hatzius hat einen der wichtigsten Jobs an der Wall Street inne: Er arbeitet als Chefvolkswirt der Investmentbank Goldman Sachs. Vor der Immobilienkrise warnte er frühzeitig. Nun sagt er den Vereinigten Staaten trotz Risiken ein kräftiges Wachstum voraus - und widerspricht heftig "Dr. Doom".

Moritz Koch

Er ist einer der mächtigsten Deutschen an der Wall Street, doch er strahlt vor allem eines aus: Nüchternheit. Jan Hatzius, 42, antwortet mit geradem Kreuz und ruhiger Stimme. In Heidelberg geboren und in Hamburg aufgewachsen, studierte er Volkswirtschaft, promovierte in Oxford und heuerte 1997 bei der Investmentbank Goldman Sachs an. Bald machten ihn seine präzisen Vorhersagen berühmt. Als einer der wenigen Ökonomen sagte er die US-Immobilienkrise voraus. Zum Lohn beförderte Goldman Sachs den Experten Hatzius zum Chefvolkswirt.

Fraud Charge Against Goldman Sachs Takes Toll On Market Indices

Jan Hatzius ist einer der mächtigsten Deutschen an der Wall Street. Bald machten ihn seine präzisen Vorhersagen berühmt. Zum Lohn beförderte Goldman Sachs den Experten Hatzius zum Chefvolkswirt.

(Foto: AFP)

SZ: Herr Hatzius, seit ein paar Wochen sind Sie Chefökonom von Goldman Sachs und schon setzt es Kritik von Konservativen. Denen gilt ihre Abteilung als Hort der "Steinzeit-Keynesianer" - hier säßen also Leute, die für staatliche Hilfen in der Wirtschaft plädieren.

Jan Hatzius: Wir sagen, was unsere Erwartung für die Wirtschaft ist. Wenn man sich den kurzfristigen Wirtschaftsausblick anschaut, dann ist es eben so, dass staatliche Sparmaßnahmen oder Steuererhöhungen einen negativen Konjunkturimpuls geben. Das sagen nicht nur wir, sondern die meisten Ökonomen, im Privatsektor, bei internationalen Organisationen oder bei Zentralbanken.

SZ: Wenn es hier um wirtschaftliche Vernunft geht, warum dringen Sie damit nicht durch?

Hatzius: Ich sage nicht, dass Sparen unvernünftig ist. Nur, dass man sich über die Konsequenzen im Klaren sein muss. Man muss beim Sparen das Timing richtig hinbekommen. Die USA haben ein großes strukturelles Haushaltsdefizit, das langfristig geschlossen werden muss. Ich denke, das sollte graduell geschehen, nicht überstürzt.

Genug freie Kapazitäten

SZ: Den Republikanern kann es nicht schnell genug gehen. Sie behaupten, der Staat verdränge private Investitionen.

Hatzius: Ich sehe keine Anzeichen dafür. Es gibt genug freie Kapazitäten in der Wirtschaft, so dass es genug Raum für staatliche Ausgaben gibt. Eine Verdrängung privater Investitionen würde in der Regel über höhere Zinsen laufen. Aber davon ist nichts zu spüren. Die Zinsen verbleiben auf historisch niedrigem Niveau.

SZ: Aber wie lange noch? In Washington stehen dramatische Verhandlungen an. Zwar sieht es so aus, als würden sich Demokraten und Republikaner darauf verständigen, die Regierung für ein paar Wochen zumindest weiter zu finanzieren. Aber bald muss die gesetzlich vorgeschriebene Obergrenze der Neuverschuldung angehoben werden, sonst laufen die USA Gefahr, bald ihre Kreditwürdigkeit zu verspielen. Befürchten Sie, dass der Kampf um das Staatsdefizit weiter eskaliert?

Hatzius: Das Finanzministerium hat Möglichkeiten, den Moment der Wahrheit etwas hinauszuzögern. Doch letztlich muss die Schuldengrenze angehoben werden, und wir erwarten auch, dass das passiert. Die wirtschaftliche Erholung steht auf dem Spiel.

SZ: Wie lange werden die Investoren noch die Nerven behalten? Washington demonstriert Tag für Tag seine Unfähigkeit, die wirklich wichtigen Probleme anzugehen, etwa in der Gesundheitspolitik.

Hatzius: Amerika muss konsolidieren, keine Frage - aber es hat dafür noch Zeit. Das Vertrauen der Investoren in die USA besteht fort. Die Zinsen werden daher nur langsam steigen.

SZ: Die hohe Verschuldung bleibt das größte Problem. Jeder Amerikaner schultert rechnerisch eine Schuldenlast von 120 Prozent seines verfügbaren Einkommens. Wie kann das nachhaltig sein?

Hatzius: Die Zahl ist zwar richtig, aussagekräftiger ist aber das Verhältnis des Schuldendienstes, also Tilgung und Zinszahlung, zum verfügbaren Einkommen. Da sind wir derzeit bei zwölf Prozent, also in etwa der Spanne vor dem Schuldenboom der 2000er Jahre.

Die Prognosen bleiben

SZ: Sie geben sich in ihren Vorhersagen seit ein paar Monaten sehr optimistisch und sagen den USA ein kräftiges Wachstum voraus. Die Unruhen im Nahen Osten machen die Anleger nervös. Müssen Sie Ihre Prognosen revidieren?

Hatzius: Wir bleiben bei unseren Vorhersagen. Steigende Rohstoffpreise hatten die ja schon beinhaltet. Dieser Anstieg ist jetzt schneller gekommen, als unsere Strategen dachten. Es gibt also ein gewisses Risiko. Wir rechnen dennoch nach wie vor mit 3,5 bis vier Prozent Wachstum bis zum Ende 2012. Das klingt ganz ordentlich. Relativ zu dem Einbruch von 2008 und 2009 ist es aber nur eine moderate Erholung.

SZ: Reicht das, um die Arbeitslosigkeit spürbar zu drücken?

Hatzius: Ja, aber "spürbar drücken" heißt nicht eine sofortige Rückkehr zur Vollbeschäftigung. Auch 2012 wird die Arbeitslosenquote noch sehr, sehr hoch sein, etwa acht Prozent.

SZ: Das heißt, dass Amerika ein Problem mit struktureller Arbeitslosigkeit bekommt, die in Deutschland jahrzehntelang vorherrschte. Importieren die USA die europäischen Probleme?

Hatzius: Tendenziell haben Sie recht, lang anhaltende Arbeitslosigkeit bedeutet, dass man die Bindung an den Arbeitsmarkt verliert und kaum noch vermittelbar ist. Aber ich glaube, das wird in Amerika ein weniger großes Problem sein, als es in Europa in den 80er Jahren war. Der Arbeitsmarkt ist viel flexibler und der Einkommensverlust, der im Fall des Jobverlustes eintritt, ist viel größer. Daher ist der Anreiz stärker, sich um einen neuen Job zu bemühen.

SZ: Nouriel Roubini, bekannt als "Dr. Doom", hat das Gespenst der Stagflation, nämlich Inflation und Stagnation zugleich, wiederauferstehen lassen. Für Sie reine Panikmache?

Hatzius: Nun, Stagflation bedeutet Niedrigwachstum. Wir sehen aber kein Anzeichen für eine hohe Inflation.

SZ: Und was wäre, wenn es einen neuen Ölpreisschock gäbe?

Hatzius: Unsere Schätzung ist, dass ein zehnprozentiger Anstieg des Ölpreises das Wachstum in den beiden darauf folgenden Jahren um insgesamt 0,4 Prozentpunkte reduziert. Wenn wir wieder das Preisniveau von Mitte 2008 erreichen würden, müssten wir uns Sorgen machen. Aber derzeit sind wir davon weit entfernt, solange Saudi-Arabien nicht ins Wanken gerät.

SZ: Kommen wir zum nächsten Brennpunkt: Der Immobilienmarkt hat sich noch immer nicht stabilisiert. Es stehen weitere Zwangsversteigerungen und noch mehr Zahlungsausfälle bevor. Können die Banken das überhaupt noch aushalten?

Hatzius: Wir erwarten für das laufende Jahr einen Rückgang der Immobilienpreise um fünf Prozent. Aber die Banken wissen inzwischen, dass Häuserpreise auch sinken können. Sie sind vorbereitet.

Auf der Seite der Vorsicht

SZ: Die Finanzmarktreform ist beschlossen. Aber viele Kritiker sagen, alles ist wieder so wie vor der Krise.

Hatzius: Aus zyklischer Sicht kann man sagen: Es gibt einen Pendelschlag zwischen Überschwang und übergroßer Vorsicht. Wir sind immer noch auf der Seite der Vorsicht. Banken wirtschaften heute mit mehr Eigenkapital und geringeren Schuldenhebeln.

SZ: Vorsicht? Im Silicon Valley werden Milliardensummen in gerade erst gegründete Internetfirmen gepumpt. Gleichzeitig geht viel Geld in die Schwellenländer. Entstehen die nächsten Spekulationsblasen, noch ehe die Folgen des großen Crashs von 2008 beseitigt sind?

Hatzius: Wenn ich mir die Bewertungen unterschiedlicher Anlageformen anschaue - ob nun Aktien, Anleihen oder Immobilien - kann ich keine neue Finanzmarktblase erkennen. Aber es ist richtig, dass in vielen Schwellenländern eine Überhitzung droht, insbesondere in Staaten, die ihre Währung an den Dollar gekoppelt haben wie China und Hongkong. Die Geldpolitik der US-Notenbank Fed ist für die USA angemessen, für andere Länder aber keinesfalls. China könnte darauf reagieren, indem es seine Währung aufwertet - das wäre nicht nur aus amerikanischer Sicht wünschenswert. Auch für die chinesische Volkswirtschaft wäre es besser. Ganz vorsichtig unternehmen die Chinesen ja auch Schritte in die richtige Richtung, aber das ist ein sehr, sehr langsamer Prozess.

SZ: Wie schätzen Sie die Wachstumsaussichten in Europa ein?

Hatzius: Auch in der Euro-Zone wird es einen Aufschwung geben, wenn auch einen verhaltenen von etwa zwei Prozent. Gerade aus Spanien gab es zuletzt ermutigende Signale.

SZ: Allerdings durchzieht ein tiefer Graben die Euro-Zone. Deutschland wächst viel schneller als die südlichen Staaten. Auch der Inflationsdruck ist viel größer.

Hatzius: Es ist eben schwierig, den optimalen Währungsraum zu schaffen, das ist und bleibt ein Risiko. Vor der Krise war die Geldpolitik zu restriktiv für Deutschland und zu locker für Irland und Spanien. Jetzt ist es umgekehrt.

SZ: Müssen sich die Deutschen in den nächsten Jahren mit einer höheren Inflation abfinden?

Hatzius: Ja, die Preise sind in Deutschland viele Jahre langsamer gestiegen als im Rest Europas. Nun dreht sich das um. Aber das lässt sich nicht ändern. Man sollte europäische Geldpolitik nicht nur für Deutschland machen.

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