Finanzkrise:Eine Welt voller Verwerfungen

Zwei Jahre nach Lehman: Das Schlimmste ist vorbei, die Krise selbst aber nicht, im Gegenteil. Die Anpassung der Politik an eine grundlegend gewandelte Realität hat erst begonnen.

Nikolaus Piper

Das Schicksal von Lehman Brothers entschied sich am 14. September 2008 genau um elf Uhr New Yorker Zeit. Alarmiert rief der damalige US-Finanzminister Henry Paulson seinen britischen Kollegen Alistair Darling an, weil die Finanzaufsicht in London plötzlich Einwände gegen die schon sicher geglaubte Übernahme der strauchelnden Investmentbank durch das britische Geldhaus Barclays erhoben hatte.

Lehman Brothers

Der Tag der Insolvenz: Die Zentrale der Investmentbank Lehman Brothers in New York am 15. September 2008.

(Foto: dpa)

Das Telefonat verlief ergebnislos. "Er wird's nicht tun", sagte Paulson hinterher zu Timothy Geithner, damals Chef der Federal Reserve Bank of New York. "Er sagt, dass er unseren Krebs nicht importieren will." Mit anderen Worten: Ohne staatliche Garantien aus Washington würde es keinen Barclays-Lehman-Deal geben. "Okay. Dann also Plan B", entgegnete Geithner.

"Plan B" - das war die Insolvenz der 150 Jahre alten Bank Lehman Brothers. "Wenn du das Pony reiten willst, musst du manchmal auch in die Scheiße treten", sagte Paulson.

So schildert Andrew Sorkin, Wirtschaftsreporter der New York Times, die entscheidenden Minuten jener legendären Wochenendsitzung vor zwei Jahren, in der Amerikas Finanzelite mit dem Versuch scheiterte, die Pleite von Lehman im letzten Augenblick zu verhindern. Sorkins Buch "Too Big To Fail", fast 600 Seiten dick, gehört zu den wichtigen Beiträgen, mit denen Ökonomen, Journalisten und Politiker bis heute versuchen, die Krise aufzuarbeiten.

"Ernste, aber nicht schuldhafte Fehlentscheidungen"

Noch dicker, mehr als 2200 Seiten, ist der Bericht, den der New Yorker Insolvenzanwalt Anton Valukas im Auftrag des Konkursgerichts in Manhattan aufgeschrieben hat. Mit aller Akribie beschreibt Valukas, wie Lehmans Chef Richard Fuld konsequent exzessive Risiken sammelte und diese dann systematisch vor Aktionären und Aufsehern versteckte.

"Lehman war eher die Konsequenz als die Ursache des sich verschlechternden wirtschaftlichen Klimas", meint er, um dann zu schließen: "Lehmans Schieflage und die Konsequenzen für Gläubiger und Aktionäre wurden verschärft durch Lehmans Manager, deren Verhalten von ernsten, aber nicht schuldhaften Fehlentscheidungen bis zu justitiablen Bilanzmanipulationen reicht."

Ein Feuerwehreinsatz mit 700 Milliarden Dollar

Unmittelbar nach der Lehman-Pleite zogen viele sehr kluge Leute sehr weitreichende Schlüsse. Die meisten davon haben sich als falsch erwiesen: Weder ist der Kapitalismus zusammengebrochen noch das Geschäftsmodell der Wall Street. Nur ein Jahr nach der Krise verbuchte Goldman Sachs, der Star unter den Investmentbanken, eines der besten Ergebnisse seiner Geschichte. Das Problem von Goldman-Chef Blankfein bestand nicht darin, Gewinne zu machen, sondern angesichts des Volkszorns seinen Erfolg kleinzureden.

Viele Beteiligte an der Wall Street scheinen weitermachen zu wollen wie vorher. Das sollte aber die positiven Erfahrungen aus der Krise nicht vergessen machen: Der internationalen Gemeinschaft ist es gelungen, eine Wiederholung der Weltwirtschaftskrise zu verhindern und sich auf eine neue Ordnung für den Finanzsektor zu einigen.

Es begann mit Feuerwehreinsätzen: Die Federal Reserve und die Europäische Zentralbank sorgten dafür, dass die globalen Kreditmärkte nicht einfroren. US-Finanzminister Paulson stoppte die Panik an der Wall Street mit einem Rettungsprogramm in Höhe von 700 Milliarden Dollar ("Tarp"). Die sieben führenden Industriestaaten ("G7") stabilisierten die Lage, indem sie eine Garantie für alle "systemrelevanten" Finanzinstitute aussprachen. Im März 2009 erreichte die Weltwirtschaft ihren Tiefpunkt und erholt sich seither wieder.

Bemerkenswert auch, dass nicht nur das unmittelbare Krisenmanagement funktionierte, sondern dass auch das Fundament für eine neue globale Finanzordnung gelegt wurde. Diese hat noch gefährlich viele Mängel, sie ist aber deutlich besser, als viele Pessimisten dies erwartet hatten.

Der Club der Industrie- und Schwellenländer ("G20") wurde in der Krise als globales Steuerungsgremium eingeführt - ein fast vergessenes Verdienst des früheren US-Präsidenten George W. Bush. Der G-20-Gipfel von Pittsburgh im September 2009 formulierte einen weitreichenden Reformplan, der in Teilen bereits umgesetzt wurde.

Nach der Finanzindustrie hat nun die Politik ein Legetimitätsproblem

Seit Juli gibt es in Amerika ein Reformgesetz, durch das es künftig möglich sein wird, Banken, ehe sie zusammenbrechen, auf ordentliche Weise abzuwickeln. Ein zweiter Fall Lehman könnte heute verhindert werden - wenigstens in den USA. Am Sonntag schließlich einigten sich die Bankenaufseher aus 27 Ländern auf neue Eigenkapitalregeln. Geldhäuser müssen nach einer Übergangszeit doppelt so hohe Reserven vorhalten wie vor der Krise. Das ist immer noch zu wenig, aber ein großer Schritt nach vorne.

Das eigentliche Risiko liegt auch nicht in einer Wiederholung der Finanzkrise - die ist bis auf weiteres sehr unwahrscheinlich. Womit die Industrieländer sich herumschlagen müssen, ist etwas anderes: Die Legitimitätskrise des Finanzsektors hat sich auf die Politik übertragen und macht Regieren immer schwieriger. Der Extremfall sind hier die Vereinigten Staaten.

Im Herbst 2008 habe die Politik die Wahl gehabt, entweder die Banken zu bestrafen oder aber deren lebenswichtige Rolle für die Volkswirtschaften zu sichern, sagte Timothy Geithner, der frühere Chef der New York Fed, den Barack Obama zu seinem Finanzminister machte. Beides zusammen sei nicht möglich gewesen. Dass die Regierung sich für die zweite Alternative entschied, das Überleben, wird ihr jetzt zum Vorwurf gemacht. Die Wähler wollten beides: Überleben und Strafe.

Wenn Obamas Demokraten bei den Kongresswahlen am 2. November, wie zu erwarten, eine verheerende Niederlage erleiden werden, dann haben sie das, neben Obamas Gesundheitsreform, vor allem der Bankenrettung und dem Konjunkturprogramm zu verdanken. Zornige Wähler machen diese Programme dafür verantwortlich, dass das Haushaltsdefizit ins Unermessliche steigt. Das ist zwar unfair, denn ohne die Programme wäre alles noch viel schlimmer. Aber zornige Wähler sind nicht fair.

Die Politik ist überfordert

Das politische Problem bleibt den USA erhalten, ganz unabhängig vom Wahlausgang im November. Der Untergang Lehmans hatte eine lange Phase beendet, in der Privathaushalte, Regierungen und viele Finanzinstitute ihre Probleme durch immer höhere Schulden überdeckten. Der Schuldenstand muss jetzt normalisiert werden, und diese Normalisierung drückt auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Deshalb wird der Aufschwung fragil bleiben und die Arbeitslosigkeit hoch. Die Politik ist überfordert mit dem, was die amerikanischen Wähler jetzt verlangen: Vollbeschäftigung.

Zu den Spätfolgen der Lehman-Pleite gehörte auch die Euro-Krise dieses Frühjahrs. Die Finanzkrise hat die Probleme der Europäischen Währungsunion sicher nicht verursacht, aber sie hat sie sichtbar gemacht und verstärkt. Das Regelsystem hinter dem Euro ist unzureichend. Die Kombination von schuldenfinanziertem Wachstum in Griechenland, Spanien, Portugal und Irland mit hohen Exportüberschüssen in Deutschland ist auf Dauer nicht durchzuhalten.

Die Probleme des Euros ließen Zweifel an einer der fundamentalsten staatlichen Einrichtungen aufkommen: am Geld. Der anhaltend hohe Goldpreis von 1230 Dollar und mehr ist durch wirtschaftliche Fakten nicht zu erklären, sondern nur durch ein tiefes Misstrauen der Menschen in die Fähigkeit von Staaten, den Geldwert zu sichern, ob dies nun gerechtfertigt sein mag oder nicht.

Die Welt zwei Jahre nach Lehman: Das Schlimmste ist vorbei, die Krise selbst aber nicht. Im Gegenteil: Die Anpassung der Politik an eine grundlegend gewandelte politische Realität hat erst begonnen. Die Krise habe "Verwerfungen" in der Weltwirtschaft offengelegt, sagt der Ökonom Raghuram Rajan von der Universität Chicago. "Der US-Finanzsektor überbrückte die Lücke zwischen der Überkonsumtion und Überschuldung in den Vereinigten Staaten und der Unterkonsumtion und Unterverschuldung im Rest der Welt", wobei das ganze Gebäude auf dem US-Immobilienmarkt gründete. Nun ist das Gebäude zusammengebrochen, die Verwerfungen in der Welt bestehen jedoch weiter, sie lassen sich auch nicht so einfach beseitigen.

Dieses Legitimationsproblem hat die Politik auch in Deutschland: Die inzwischen verstaatlichte Skandalbank Hypo Real Estate braucht nach ihrer teuren Rettung noch einmal 40 Milliarden Euro an Staatsgarantien, einfach so. Und dies in einer Zeit, in der eigentlich die Sanierung des Bundeshaushalts beginnen soll. Letztlich ist dies der Tatsache zu schulden, dass es in Deutschland, anders als in den USA, bis heute kein Verfahren gibt, um eine Bank geordnet abzuwickeln - zwei Jahre nach dem Fall Lehman.

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