Süddeutsche Zeitung

Finanzierung des Gesundheitssystems:Nichts wie raus aus der privaten Krankenkasse

Wer privat versichert ist, hat es geschafft. Er wird besser als andere behandelt. Aber wehe, der Mensch wird älter und bekommt Kinder: Dann entpuppt sich die Privatversicherung als sicherer Irrtum. Bericht von einem, der ihr entkommen will.

Patrick Illinger

Das ganze Schlamassel begann vor gut zwölf Jahren. Ein agiles Männlein trat damals in mein Leben, zunächst am Telefon, dann im Büro. Ein Versicherungsmakler war das, jovial und scheinbar kenntnisreich. Manchmal ballte er die Fäuste, ähnlich wie der Bankier im Film "Rossini", der penetrant sagt: "Ich habe ein gutes Gefühl!" Solche Sachen sagte der Versicherungsmensch zwar nicht, aber er gab mir ein gutes Gefühl. Und ich unterschrieb.

Goldrichtig, sagte der Makler, nachdem die Sache besiegelt war, da hätte ich mir den Mercedes unter den privaten Krankenversicherungen ausgesucht. Anders als es vielen nachgesagt wird, die das System der gesetzlichen Kassen verlassen, ging es mir gar nicht um einen besonders günstigen Tarif.

Der Beweggrund war eher eine Mischung aus Naivität und Lebensgefühl. Die sogenannte Versicherungspflichtgrenze war erreicht, der Weg in eine Privatkasse stand offen. Ein bisschen mehr für die Gesundheit bezahlen, das kam mir vor, wie beim Autokauf einen zusätzlichen Airbag zu bestellen. Heute weiß ich: Es war die dümmste Entscheidung meines Lebens.

Das Problem ist dabei nicht meine spezielle Privatkasse. Sie hat bisher alle medizinischen Leistungen anstandslos, prompt und pünktlich erstattet. Sofern der Vergleich mit Autoherstellern statthaft ist, bin ich tatsächlich bei einer verlässlichen Marke gelandet. Ein bisschen rätselhaft kommt mir zwar vor, dass Versicherungsunternehmen ständig damit beschäftigt sind, sich gegenseitig zu kaufen. Auch meine Versicherung, eine mit drei Buchstaben, ging schon durch mehrere Hände.

Ein Konstrukt mit riesigem Systemfehler

Zurzeit gehört meine Dreibuchstabenversicherung einer Vierbuchstabenversicherung. Aber das scheint kein Nachteil zu sein. Sollen sich Versicherer doch gegenseitig kaufen soviel sie wollen.

Das Problem ist das Prinzip der privaten Krankenversicherung. Das gesamte Konstrukt ist ein riesiger Systemfehler. Keine Frage, man bekommt bei vielen Ärzten schneller einen Termin, und je nach Tarif wird manch medizinischer Schnickschnack erstattet, den gesetzliche Kassen nicht bezahlen. Doch genau hier liegt auch das Problem: Die Kosten wachsen exponentiell, das System wird an sich selbst ersticken. Es ist wie eine Feier auf dem Oberdeck der Titanic, und Rettungsboote gibt es keine.

In was ich hineingeraten war, begann ich zu ahnen, als mir mein Hausarzt gegen Grippe einen afrikanischen Wurzelsud verschrieb, knapp 30 Euro das Fläschchen, den die Kasse anstandslos erstattete. Eine widerliche Tinktur war das, für deren Wirksamkeit es keinerlei wissenschaftliche Nachweise gibt. Da wurde mir zum ersten Mal klar: Ich will nicht in einer Krankenversicherung sein, die afrikanischen Wurzelsud finanziert. Ich will auch nicht, dass andere Leute von meinen Beiträgen nutzlosen Hokuspokus kaufen.

Als später die Stirnhöhlen zu schmerzen begannen, suchte ich einen Hals-Nasen-Ohren-Arzt auf. Zehn Minuten nach dem Vorsprechen saß ich mit hochgerollten Ärmeln in einem Kämmerchen, während eine Praxishelferin Dutzende kleine Wunden in meinen Arm stocherte. Ein Allergietest, hieß es. Irgendwann bat ich um ein Taschentuch und suchte das Weite.

Mein angestammter Zahnarzt bestand plötzlich bei jeder Routinekontrolle auf einem Röntgenbild sowie einer ausgiebigen Gebissreinigung, bei der mit einem fiependen Stachel das Zahnfleisch blutig gestochert wird.

In voller Pracht zeigte sich die Absurdität einer Privatversicherung beim ersten Hexenschuss. Kaum fähig, mich noch auf dem Bürostuhl zu erheben, schaffte ich gerade noch den Weg in eine große Orthopädiepraxis ein paar Meter die Straße runter. Im Wartezimmer brauchte ich die Hilfe zweier Arztschwestern. Derart wehrlos wurde ich ins Vollprogramm gesteckt, inklusive Vorwäsche, Spülung und Schleudern. Riesige Spritzen wurden in den Rücken gerammt, und kaum war das Wort Akupunktur ausgesprochen, hatte ich Nadeln im Gesicht, die zeitweise die rechte Gesichtshälfte lähmten. Natürlich waren Röntgenaufnahmen vonnöten, die Wirbelsäule seitlich und von vorne. Auf zaghaftes Nachfragen wurde ernst erklärt, man müsse einen Tumor ausschließen.

Um Himmels willen, natürlich, schließen Sie das aus, koste es, was es wolle. Hierfür brauchte es neben Röntgenbildern auch eine Kernspintomographie. Wie zufällig hatte eine nahegelegene radiologische Praxis noch einen Termin frei.

Jedes Telefongespräch wird zur hochkomplexen Beratungsleistung

Argumente der Ärzte für Diagnosen und Behandlungen aller Art gibt es viele. Das meiste davon kann ein Durchschnittspatient niemals überprüfen. Jedes Telefongespräch erscheint auf der Rechnung als intensive, besonders eingängige, hochkomplexe Beratungsleistung. Fast nie wird ein Posten gemäß der Basissätze der Gebührenordnung abgerechnet, sondern mit dem 2,3- oder gar 3,5-fachen Satz, die eigentlich für außergewöhnliche Umstände vorgesehen sind.

Es gibt kaum Privatpatienten, die nicht Geschichten erzählen können über befremdlich hohe Abrechnungen oder merkwürdige Posten auf der Liquidation. Abgesehen davon ist es wohl kaum der Gesundheit zuträglich, ständig mit Ärzten in Streit zu geraten.

Kein Wunder, dass sich die Kosten für ambulante Arztleistungen unter Privatversicherten in 13 Jahren verdoppelt haben, während die gesetzlichen Kassen nur um 40 Prozent mehr erstatten mussten. Erschreckend oft hört man von Leistungen, die berechnet, aber gar nicht erbracht wurden. Einer Kollegin wurde ein Knie geröntgt, abgerechnet wurden beide Knie. Doch egal ob man sich als Patient nur abgezockt fühlt oder tatsächlich ein Fehler passiert: Dem Versicherer ist piepschnurzegal, was beim Arzt tatsächlich lief.

Wir erstatten, was Sie einreichen, heißt es auf Nachfrage. Der Arzt hat zu viel berechnet? Das müssen Sie selbst mit ihm klären. Wem das zu viel Aufwand ist, der lässt sich die überhöhte Rechnung erstatten und spart sich den Stress. Das System zahlt, so oder so.

Die irrwitzige Logik der Privatversicherung offenbart sich oft nur durch Zufälle, so wie in jener Apotheke, in der ein verschriebenes Antibiotikum nicht vorrätig war. "Ich könnte das Generikum anbieten", murmelte die Pharmazeutin etwas verschämt. Das Generikum? Der gleiche Wirkstoff von einem anderen Hersteller und dazu noch preisgünstiger? Warum sie das nicht gleich vorschlage? Weil Sie privat versichert sind, sagte sie.

Man fühlt sich wie in einem riesigen Restaurant, bei dem permanent Gerichte aufgetragen werden, die man nie bestellt hat. Dargeboten wird nur das Feinste, und die Gäste hauen rein. Für die Profiteure dieses monströsen Selbstbedienungssystems, für Ärzte, Pharmafirmen und Medizinprodukte-Hersteller, ist es ein Paradies. Dabei sollte eine Versicherung eigentlich das sein, was der Name meint: eine Versicherung gegen Katastrophen und kein All-inclusive-Wellness-Programm.

Schlaganfall, Krebs, Aneurysma - wenn so etwas passiert, dann soll bitte schön ganze Arbeit geleistet werden. Aber lasst bitte den afrikanischen Wurzelsud weg, so wie die Reflexzonenmassage, die Moor-Paraffin-Packung und das Bad mit vegetabilischen Extrakten.

Tagtäglich werden jedoch Privatpatienten "überversorgt", wie es im Jargon des Gesundheitswesens heißt, und die Kosten blähen sich exponentiell auf. Axel Kleinlein, Chef des Bundes der Versicherten, schätzt, dass mindestens jeder vierte Privatpatient ins gesetzliche System wechseln möchte. Das wären zwei Millionen Menschen in Deutschland. Ich bin einer von ihnen.

Doch dafür muss man nach geltender Rechtslage entweder arbeitslos werden oder sein Gehalt freiwillig kürzen. Wer das nicht tut, ist bis zum Lebensende an seine Dreibuchstabenversicherung gekettet.

Schwindelerregende Beitragserhöhung - jährlich

Welche Ausmaße das annimmt, erfährt man als Privatpatient jedes Jahr kurz vor Weihnachten. Dann kommt ein immergleicher Schrieb mit einer fast immer schwindelerregenden Beitragserhöhung, die weit über der Inflationsrate liegt, oft im zweistelligen Prozentbereich. Vor zwei Jahren erreichten meine Beiträge eine Schwelle, die Börsenexperten eine psychologisch wichtige Marke nennen würden.

Nach viel Telefondiplomatie gelang es mir, einen Ansprechpartner in der Versicherung zu finden, und wie selten im Leben hatte ich Glück. Ein hilfreicher Berater hörte sich mein Klagen an, und es passierte das Unvorstellbare: Ich wurde in einen anderen Tarif eingeordnet, der satte 150 Euro im Monat weniger kostete - bei gleicher Leistung. Hatte ich jahrelang mehr bezahlt, als ich müsste? Jedenfalls bekommt man solche Tarifwechsel nicht einfach vorgeschlagen. Man muss schon selbst hyperaktiv werden.

Seitdem kostet die Krankenversicherung nur noch so viel wie eine Zweizimmerwohnung in mittlerer Lage. Und nicht mehr in guter Lage. Doch das ist nur ein kurzes Luftholen.

Selbst schuld, schrieb kürzlich ein Kollege in einem Kommentar über das Gesundheitssystem, Privatversicherte bekämen eben die Quittung dafür, dass sie aus dem Solidarsystem der gesetzlichen Kassen ausgestiegen sind. Doch so einfach ist es nicht. Die 8,9 Millionen Privatversicherten in Deutschland sind eine Art Bad Bank des hiesigen Gesundheitssystems. Zehn Milliarden Euro pumpen sie jedes Jahr in das bis in die Fundamente vermoderte deutsche Gesundheitswesen. Viele Arztpraxen überleben nur dank einer Mischung von Privat- und Kassenpatienten.

Fachleute haben allerdings auch hochgerechnet, dass die Privatversicherungen in den kommenden 40 Jahren 24 Milliarden Euro zusätzlich brauchen werden, damit sie überleben. Für jene, die in diesem absurden System gefangen sind, ist es, als würde man seine Altersvorsorge in griechischen Staatsanleihen anlegen, die von Bernie Madoff verwaltet werden.

Selbst schuld? Nein, ich finde, jeder Mensch sollte das Recht haben, Fehler zu revidieren, wenn eine angemessene Strafe abgebüßt wurde. Von Ehepartnern kann man sich trennen, Privatinsolvenzen kann man regeln, sogar Mörder werden resozialisiert. Privatversicherte haben, nach heutiger Rechtslage, keine Chance.

Man ist in einem System gefesselt, dessen Ausgaben permanent steigen, um Löcher zu stopfen, für die man selbst nicht viel kann. Vieles erinnert an das globale Finanzwesen, nur dass es kein Basel-3-Abkommen und keinen Rettungsschirm gibt. Es ist unausweichlich, sagen Politiker aller Parteien, dass das System der Privaten Krankenversicherung an sich selbst ersticken wird.

Jens Spahn, gesundheitspolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, sieht die Branche in "existenziellen Problemen". Dem heutigen System der privaten Krankenversicherung gibt er höchstens noch fünf bis zehn Jahre. Diesen Zusammenbruch kann ich, ehrlich gesagt, kaum erwarten. Eine Bürgerversicherung muss her. Schnickschnack und Hokuspokus soll dann jeder individuell dazuversichern.

Lockangebote mit Billigtarifen

Den Ernst der Lage haben längst auch die Versicherer bemerkt. Mehr als 4,5 Milliarden Euro jährlich geben die Privatkassen für Vertrieb, Werbung und Verwaltung aus. Mit Billigtarifen versuchen sie, jüngere, möglichst gesunde und zahlende Mitglieder in das System zu schleusen.

So ist es kein Wunder, dass zunehmend von Menschen zu hören ist, die zwar privatversichert sind, aber wesentliche Gesundheitsleistungen aufgrund neuer Schmalspur-Tarife nicht mehr erstattet bekommen. Reihenweise gibt es entsetzliche Berichte über Senioren, bei denen die Beiträge die Rente übersteigen und Menschen, die zwangsweise auf einen Basistarif umgestellt werden und von Ärzten nur noch auf dem Flur behandelt werden.

Um dem entgegenzutreten, legen die privaten Krankenversicherungen sogenannte Altersrückstellungen an. Doch längst ist zu hören, dass diese Etats in Zeiten der Euro- und Finanzkrise dahinschmelzen. Auch rechnen Krankenversicherer mit unrealistischen Zukunftsprognosen. So wird angenommen, dass ein 20-Jähriger in 50 Jahren die gleiche Lebenserwartung hat wie ein heute 70-Jähriger. Das ist aber, sollte es mit dem Wohlstand so bleiben, nicht der Fall. Die Lebenserwartung steigt.

Rentenversicherungen berücksichtigen das, viele Krankenkassen nicht. Ebenso wenig wird bei der Altersrückstellung berücksichtigt, dass der medizinische Fortschritt teurer wird.

Wenigstens den röntgenbegeisterten Zahnarzt habe ich abgeschafft. Beim ersten Besuch in einer neuen Praxis hatte ich mir bereits diverse Abwehrmaßnahmen zurechtgelegt. Doch mein neuer Zahnarzt besah sich lediglich das Gebiss, klopfte mir auf die Brust und sagte, "sieht alles gut aus, da passiert auch nichts mehr".

Als ich fragte, ob er übersehen habe, dass ich privat versichert bin, lachte er nur. Die Rechnung fürs Zähnenachgucken betrug 12,90 Euro. Ich finde, so jemand sollte Gesundheitsminister werden.

Linktipp: Viele Privatversicherte fragen sich, wie sie aus ihrer Kasse wieder in die gesetzliche wechseln können. Die SZ hat hier fünf Möglichkeiten zusammengestellt.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1424827
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 28.07.2012/rela
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.