Finanzchefin bei Lehman Brothers:Mitten im Sturm

Erin Callan, die junge Finanzchefin der Investmentbank Lehman Brothers, ist wohl die mächtigste Frau an der Wall Street - und kämpft nun den Kampf ihres Lebens.

Nikolaus Piper

Die Woche hat schlecht begonnen an der Wall Street. Lehman Brothers kündigte einen Quartalsverlust von 2,8 Milliarden Dollar an, den ersten, seit die Investmentbank 1994 an die Börse gegangen ist und ein Vielfaches dessen, was die Experten erwartet hatten. Außerdem will Lehman sechs Milliarden Dollar bei Aktionären einsammeln, um mehr Eigenkapital zur Verfügung zu haben. Jetzt fragen viele Investoren: Ist das Schlimmste an den Finanzmärkten etwa doch noch nicht vorüber?

Finanzchefin bei Lehman Brothers: Ungewöhnlich offen als Finanzvorstand: Erin Callan von Lehman Brothers.

Ungewöhnlich offen als Finanzvorstand: Erin Callan von Lehman Brothers.

(Foto: Foto: oH)

Dass die Wall Street bereits am Montag Gelegenheit hatte, über die schlechte Lage bei Lehman zu lamentieren, und nicht erst nächste Woche, wenn die regulären Quartalszahlen veröffentlicht werden, dürfte das Werk von Erin Callan sein.

Die Finanzchefin von Lehman ist erst ein halbes Jahr im Amt und hat sich in dieser kurzen Zeit einen Ruf geschaffen als Frau, die, gemessen an anderen Finanzvorständen, ungewöhnlich offen ist, die im Fernsehen auch über Unbequemes redet und bereit ist, sich zu exponieren. "Was gegenwärtig passiert, ist das Härteste, was ich bisher erlebt habe und was andere in den letzten 40 Jahren erlebt haben," sagte sie frank und frei der Starjournalistin Maria Bartiromo vom Wirtschaftssender CNBC.

Applaus im Handelssaal

Nach Berichten amerikanischer Medien fiel die Entscheidung bei Lehman, bereits jetzt die schlechten Zahlen zu veröffentlichen, am Mittwoch vergangener Woche. Richard Fuld, der altgediente Chef der Investmentbank, Erin Callan und der Rest des Lehman-Managements berieten das ganze Wochenende darüber, wie sie die schlechten Nachrichten am besten den nervösen Finanzmärkten vermitteln konnten. Das Ergebnis am Montag war nicht schön - der Aktienkurs verlor 8,70 Prozent -, aber wenn die Wall Street eine weitere Woche lang unkontrolliert über Lehmans Lage spekuliert hätte, wäre alles vermutlich noch viel schlimmer gekommen.

Auf der nächsten Seite: Wie die Tochter eines Polizisten zur wohl mächtigsten Frau an der Wall Street wurde.

Mitten im Sturm

Erin Callan ist eine ziemlich ungewöhnliche Finanzchefin, und das nicht nur, weil sie die Öffentlichkeit sucht. Die Tochter eines New Yorker Polizisten ist 42 Jahre alt. Sie hat keine Ausbildung in Finanz- und Rechnungswesen wie die meisten ihrer Kollegen, sondern ist Anwältin.

Ihr Gesellenstück bei Lehman lieferte sie im Jahr 2000 als Steueranwältin: Sie half dem Lebensmittelkonzern General Mills dabei, bei einer Akquisition stille Reserven weitgehend steuerfrei zu realisieren und sicherte ihrem Arbeitgeber so Honorare in Millionenhöhe. Mittlerweile gilt Callan dem Magazin Forbes zufolge als eine der 50 mächtigsten Frauen Amerikas und als vermutlich mächtigste Frau an der Wall Street. Bis vor kurzem hatte Zoe Cruz diesen Titel, die Präsidentin von Morgan Stanley, aber Cruz wurde im Dezember gefeuert, eine Woche bevor Erin Callan zur Finanzchefin bei Lehman befördert wurde.

Callan versteht ihren Job auch als Marketingaufgabe. Das illustriert ein Vorfall, über den das Wall Street Journal vor ein paar Wochen berichtete: Es war im März, als die Investmentbank Bear Stearns vor dem Bankrott gerettet werden musste und eine Kernschmelze an den Finanzmärkten bedrohlich nahe schien.

Nachdem JP Morgan Bear Stearns übernommen hatte, war Lehman die kleinste der New Yorker Investmentbanken und viele Investoren fragten, ob das Institut überhaupt noch eine Zukunft habe. Das erste Quartal war zudem miserabel ausgefallen. Erin Callan stellte sich daraufhin den Fragen der Analysten, und zwar so überzeugend, dass die Lehman-Aktie um 46 Prozent stieg. Sie soll hinterher im Handelssaal von Lehman stehende Ovationen bekommen haben.

Marketing-Bewusstsein zeigt Erin Callan auch im persönlichen Auftreten: Sie versucht gar nicht erst, sexistische Anwürfe männlicher Kollegen durch unfeminine Kleidung abzuwehren. Im Mai posierte sie für einen Fotografen im kleinen Schwarzen mit sehr dezidierten Stöckelschuhen - auch das nicht alltäglich für eine Finanzchefin.

Wer sehr offen ist, bekommt allerdings auch leicht Glaubwürdigkeitsprobleme. Im Januar hatte sie noch eine zweistellige Eigenkapitalrendite angekündigt. Anfang März sagte sie, die Kapitalerhöhung von 1,9 Milliarden Dollar, die Lehman im Monat davor angekündigt hatte, werde für den Rest des Jahres reichen. Ende März kam dann die nächste Kapitalerhöhung um vier Milliarden Dollar, gefolgt von den sechs Milliarden in dieser Woche. Bisher hat das dem Ansehen der Finanzchefin nicht geschadet. Nun geht es aber um mehr: Callan muss den Aktionären klarmachen, dass Lehman noch ein tragfähiges Geschäftsmodell hat.

Eine der wichtigsten Gewinnquellen der vergangenen Jahre, das Hypothekengeschäft, ist zusammengebrochen, im klassischen Investmentbanking gilt Lehman als bestenfalls durchschnittlich. Viele der Fragen, die jetzt auftreten, kann ein Finanzvorstand nicht beantworten. Aber wenn der Finanzvorstand patzt, können diese Fragen gar nicht erst beantwortet werden. Erin Callan kämpft den Kampf ihres Lebens.

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