Emotionale Debatte:Die Angst vor dem Dach

Von "Flachdach-Falle" bis "Pfusch am Bau": Im Schneechaos verirren sich die Meinungen zu Architektur und Bautypologie.

Gerhard Matzig

Es ist das Element der Architektur schlechthin: das Dach. Und seit in Bad Reichenhall die einstürzende Dachkonstruktion einer Eislaufhalle Todesopfer forderte, seit auch in Töging, Deggendorf und anderswo Schulen oder Kirchen evakuiert werden mussten, prägt diese bildmächtige Urform des Bauens auch die Berichte vom "Schneechaos".

Emotionale Debatte: Nach heftigen Schneefällen in den vergangenen Tagen herrscht in fünf Landkreisen Ostbayerns der Ausnahmezustand. Das Bild zeigt eine Frau in Zwiesel, die ihr Haus freizuschippen versucht.

Nach heftigen Schneefällen in den vergangenen Tagen herrscht in fünf Landkreisen Ostbayerns der Ausnahmezustand. Das Bild zeigt eine Frau in Zwiesel, die ihr Haus freizuschippen versucht.

(Foto: Foto: ddp)

Gezeigt werden Soldaten, die Schnee von den Dächern schieben. Zu sehen sind Landräte, die Katastrophenalarm geben, und Menschen, die ein "Knacken im Gebälk" vernommen haben und sich kaum mehr in ihre Häuser trauen. Und Prüfstatiker klären über Brettschichtholz-Konstruktionen oder Unterspanngurte auf. Das Dach ist ins Gerede gekommen. Es macht Angst. "Denn das Killer-Kristall", weiß eine Zeitung, "läßt immer mehr Dächer einstürzen."

Wobei in derartigen Artikeln von der "Flachdach-Falle" über den "Hammer-Winter" bis zur "Architekten-Schuld" keine dramaturgisch taugliche Verantwortlichkeit ausgelassen wird. Hoffnungslos verirren sich in diesem Gestöber endlich auch die Begriffe und Klischees.

Unklar ist: Was ist mit den Dächern los? Erleben wir einen meteorologischen Ausnahmezustand? Oder müssen die Statik-Normen geändert werden? Brauchen wir den Häuser-TÜV? Sind pfuschende Architekten schuld? Oder allzu sparsame Bauherren? Ist es die Finanzmisere der Kommunen, die ganze Regionen plötzlich morsch aussehen lässt? Oder muss man letztlich den "International Style" und dessen Schuhschachtel-Bauten geißeln, weil er uns "landesuntypische", "ahistorische" Dächer beschert habe?

Die zuletzt genannte Behauptung kann man seit Mittwoch immerhin relativieren: Die Schule, die in Kopfing (Oberösterreich) unter den enormen Schneelasten eingebrochen ist, war von einem herkömmlichen, ganz traditionellen Satteldach beschirmt.

Und in den Nachrichtensendungen sind auch Häuser mit Pult-, Walm-, oder Faltdächern zu sehen, die den Schneemassen kaum mehr gewachsen sind. Das Flachdach kann als Typus also nicht mehr allein verantwortlich gemacht werden - was aber nur für noch mehr Verwirrung sorgen dürfte. Denn dadurch kommt uns ein eindeutiges Feindbild abhanden.

Dass überhaupt so emotional über eine an sich trocken-ingenieurhafte Materie debattiert wird, hängt auch damit zusammen, dass das Dach nicht nur eine ästhetische und konstruktive Dimension besitzt, sondern auch psychologisch wirksam ist.

Etymologisch zeigt sich die Verwandtschaft des altgermanischen Begriffs "Dach" mit dem griechischen Wort "tégos", das zugleich Dach und Haus bedeutet und das "Deckende" als "Beschützendes" meint. Wer Obdach sucht, der sucht die Sicherheit. Wer etwas unter Dach und Fach bringt, weiß sich sicher. Wenn also Dächer einstürzen, stürzen auch emotional besetzte Denk- und Kulturräume ein. Kein Wunder, dass die Diskussion um einstürzende Altbauten zur Irrationalität verführt.

Dazu gehört die Behauptung, dass flache, mithin "moderne" Dächer in alpinen Regionen, die nun mal schneereicher seien als andere, nichts zu suchen hätten. Erstens: Flachdächer sind alles andere als modern. In weiten Teilen des Mittelmeerraumes, aber auch in Asien, ist das flache Dach seit Urzeiten bekannt. Schon um 3000 v. Chr. nutzten die Babylonier - nachzulesen etwa bei Herodot - diese Bauweise.

Und auch in unseren Breiten ist die Bedeutung etwa von begrünten Flachdächern schon lange bekannt - nachzulesen etwa beim Bausachverständigen Jakob Marperger (1656- 1730). Und mit Beginn der Industrialisierung, vor 150 Jahren also, setzte sich das Flachdach allmählich überall in der Welt durch, weil durch Eisenbeton und Stahlskelettbauweise endlich auch größere Spannweiten stützenfrei überdeckt werden konnten.

Le Corbusier schließlich pries das Flachdach zu Recht als Dachterrasse des kleinen Mannes, denn schon in der Renaissance besaßen nur Schlösser begehbare Flachdächer. Zweitens aber sind extrem flach geneigte Dächer sogar typisch für alpine, schneereiche Regionen. Tatsächlich soll der Schnee auf solchen weit auskragenden Dächern ja liegen bleiben: als eine Möglichkeit der Wärmedämmung.

Nur muss man die Schneelast natürlich immer im Auge behalten. Und erst an diesem Punkt - nämlich abseits der Bautypologie, auf dem Terrain menschlichen Versagens - kommen Fragen nach der Verantwortung ins Spiel. Denn tatsächlich, so die offizielle Schadensstatistik, ergeben sich 45 Prozent der Flachdachschäden aus "mangelhafter Ausführung", 34 Prozent aus "fehlerhafter Planung" - und nur 14 Prozent aus Materialversagen.

Wobei noch hinzukommt, dass - bedingt durch das Fehlen der sonst üblichen Tauperioden - der in den betroffenen Regionen schon seit November hochverdichtete, schwere Eisschnee die Ausnahme von der Bauwert-Norm darstellt. Deshalb ist die Norm noch lange nicht zu ändern. Aber vielleicht der naive Umgang damit: also das Bauen als schiere Normerfüllung.

Die bisher eingestürzten Dächer waren allesamt alltägliche Konstruktionen, deren Dimensionierung vermutlich eher den entsprechenden Bautabellen als dem jeweiligen baukünstlerischen Genie vor Ort entnommen waren. Es würde überraschen, stellte sich in all den Einzelfällen, die auch individuell untersucht werden müssen, heraus, dass Architekten falsche Dächer gebaut hätten. Fraglich ist eher, ob beim Bau so mancher Supermarkt- und Mehrzweckhallen überhaupt Architekten mit nennenswertem Engagement beteiligt waren.

Vor allem zwei mögliche Einsturz-Ursachen sind diskutabel: Im Vertrauen auf normgerechten Schneefall und normgerechter Belastung zögerten Supermarktfilialleiter oder kommunale Träger womöglich zu lange, um auf den Verstoß gegen die Norm angemessen zu reagieren. So etwas kostet ja.

Und zum anderen könnte die Neigung mitursächlich sein, möglichst viel Stauraum mit möglichst billigen Materialien auf möglichst billige Weise zu schaffen. Woraufhin sich die Bauherren möglichst auch noch Wartungs- oder Instandsetzungskosten sparen. Diese Form des zeitgenössischen, scheinbar wartungsfreien Billig-Bauens ist das Problem. Die Flachdächer sind es dagegen nicht. Der kürzlich als "zu bürokratisch" abgelehnte Häuser-TÜV könnte zumindest dafür sorgen, dass Menschen, die unter allzu billigen Zweckbauten leiden, nicht auch noch darunter begraben werden.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: