Ehemalige Bahnhöfe:Märchenstunde in der Schalterhalle

Die Bahn trennt sich von zahlreichen Empfangsgebäuden, die nun für Kultur und Gewerbe genutzt werden.

Von Joachim Göres

"Als ich den heruntergekommenen Bahnhof vor fünf Jahren das erste Mal betrat, habe ich nur gedacht: Hoffentlich kommst du hier wieder lebend raus." Irmhild Hergt vom Heimatverein Joachimsthal in Brandenburg erinnert sich mit Schaudern an die kaputten Fußbodendielen in den zerfallenen Wohnungen, die in dem 1885 erbauten Gebäude jahrelang leerstanden.

Und gleichzeitig ahnte sie schon etwas von der einstigen Pracht der großen Räume mit ihren hohen Decken. Kaiser Wilhelm II. stieg immer hier aus dem Zug, wenn er sich zur Jagd in die Schorfheide begab - am Kaiserbahnhof Joachimsthal.

Was macht man mit so einem traditionsreichen Empfangsgebäude, das schon lange keinen Kaiser mehr gesehen hat?

Hergt erzählt, was ihr und ihren Mitstreitern in den Sinn kam: "Wir hatten von einer Kirche in Mecklenburg-Vorpommern gehört, in der heute Hörspiele präsentiert werden. Diese Idee hat uns gefallen. In unserem Bahnhof gibt es einen großen Raum, in dem der Kaiser früher seine Gäste empfing. Dort sitzen heute unsere Gäste und lauschen den Stimmen vom Band. Die Akustik hier ist optimal." Und auch die Umgebung zieht die Besucher in den ersten deutschen Hörspielbahnhof: Die Dielen wurden durch Fliesen ersetzt, die so aussehen wie vor 100 Jahren. Und an den Wänden wurden Originalmalereien freigelegt.

Repräsentative Denkmäler

"Die Stadt hat den Kaiserbahnhof gekauft und circa 750.000 Euro in die Sanierung gesteckt. Heute ist er eine besondere Attraktion und für viele Berliner Ausgangspunkt für Wanderungen. Und zahlreiche Gäste kommen mit der Bahn auch extra wegen der Hörspiele", sagt Hergt, deren Heimatverein das Programm zusammenstellt.

Immer donnerstags bis sonntags werden nachmittags und abends Stücke vom Band wie Aschenputtel von den Gebrüdern Grimm, Mai Sjöwall mit "Die Tote im Götakanal" oder Heinrich Heines "Der fliegende Holländer" dargeboten. Freunde von Märchen, Krimis oder Weltliteratur kommen von Juli bis September auf ihre Kosten, bei freiem Eintritt. Manchmal lesen auch bekannte Schauspieler vor Publikum. Eine gute Idee, fanden die Organisatoren der Initiative "Deutschland - Land der Ideen" und zeichnen das neue Aushängeschild von Joachimsthal im Sommer bei der Nacht des Kriminalhörspiels als einen besonderen Ort der Kunst und Kultur aus.

Verkauft wurde der Kaiserbahnhof Joachimsthal von der DB Station & Service AG. Sie betreibt die derzeit 5400 Bahnstationen in Deutschland, davon 2400 mit Empfangsgebäude. Diese sind im Schnitt 85 Jahre alt, 500 von ihnen stehen unter Denkmalschutz. Etwa 3000 Quadratmeter Nutzfläche bieten die oft repräsentativen Gebäude, in denen einst Schalter, Wartesaal, Gepäckaufbewahrung und Gaststätte untergebracht waren und Bahnbedienstete wohnten.

Kommunen gingen oft leer aus

In den Augen der Bahn sind solche Bauten überdimensioniert, da für den funktionalen Betrieb 500 Quadratmeter ausreichen. So werden die Empfangsgebäude in erster Linie als Kostenfaktor angesehen, die mit viel Aufwand erhalten werden müssen. 490 Bahnhofsgebäude wurden zum Beginn des Jahres für eine mittlere zweistellige Millionensumme an den britischen Immobilieninvestor Patron Capital und den deutschen Immobilienentwickler Procom Invest verkauft. Die hatten zuvor weitere 500 Bahnhofsgebäude von der insolventen First Rail Property erworben. Nicht unbedingt zur Freude der Kommunen - die hatten zuvor vielfach vergeblich versucht, mit der Bahn ins Geschäft zu kommen und warten nun gespannt darauf, was der neue Eigentümer vorhat.

Letztlich will die Bahn nur 600 bis 700 der derzeit noch 1600 in eigenem Besitz befindlichen Empfangsgebäude behalten. "Nicht die Zahl der Reisenden oder die Größe einer Stadt ist ausschlaggebend dafür, ob wir unsere Immobilien behalten, sondern die Frage, ob wir das Gebäude noch selber nutzen oder nicht", sagt Gabriele Schlott, DB-Sprecherin für den Bereich Personenbahnhöfe.

Märchenstunde in der Schalterhalle

In der Regel sind es Bahnhöfe in kleineren Städten, die verkauft werden. In Glashütte in Sachsen wurde aus dem Bahnhofsgebäude eine Uhrenmanufaktur, im brandenburgischen Ludwigsfelde ein Museum, in Plettenberg im Sauerland eine Musikschule. In Bayern gibt es, wie etwa in Landsberg am Lech, etliche Bürgerbahnhöfe, in denen Ämter und kulturelle Einrichtungen untergebracht sind. Meistens verwandeln sich großzügige Schalterhallen in Büros, Arztpraxen, Restaurants und Geschäfte.

Im niedersächsischen Wolfenbüttel kaufte ein Bauunternehmer das Empfangsgebäude, das er heute als Kulturbahnhof präsentiert. Dort befindet sich seit 2006 außer Anwaltsbüros und der Stadtbibliothek das Restaurant "Achtzehn 38", das seine Gäste an der Tür mit dem Hinweis begrüßt: "Der Bahnhof Wolfenbüttel sowie die erste deutsche Staatseisenbahn wurden im Jahre 1838 erbaut. Am 1. Dezember 1838 wurde der erste Streckenabschnitt von Braunschweig bis Wolfenbüttel eröffnet."

Nein zum Nachtclub

Bis vor kurzem prägte die mit Graffiti übersäte Fassade das Bild. Heute erinnert das sanierte Gebäude mit seinem hellen Naturstein, das abends angestrahlt wird, wieder an die historische Bedeutung. Die Kehrseite: Bahnreisende können sich nicht mehr beim Kauf einer Fahrkarte beraten lassen - es gibt nur noch einen Automaten am Bahnsteig. Und der Weg vom Bahnhof zu den Gleisen ist länger geworden, denn ein Tunnel wurde geschlossen.

Wolfenbüttel steht für eine Lösung, wie sie oft praktiziert wird: aus einem öffentlichen Gebäude entsteht ein halb-öffentliches. Im Restaurant ist nur zahlende Kundschaft gern gesehen, in die angrenzende Bibliothek kann dagegen jeder kommen. Bestimmte Nutzungen schließt die Bahn beim Verkauf aus, wie zum Beispiel einen Nachtclub.

Märchenstunde in der Schalterhalle

Mitunter drohen in Bahnhöfen dennoch ungebetene Gäste einzuziehen. In Melle bei Osnabrück hatte ein Makler 1989 das Bahnhofsgebäude für 48.000 Mark gekauft, es umgebaut und saniert und dann 2006 der Stadt Melle für 350.000 Euro angeboten. Die lehnte ab. Daraufhin erklärte sich der Hamburger Rechtsanwalt und Neonazi Jürgen Rieger bereit, für das Gebäude 700.000 Euro zu zahlen, damit es fortan von der NPD als Schulungszentrum genutzt werden kann. Die NPD hisste zum Entsetzen der Bürger ihre Fahne auf dem Bahnhof. Die Stadt änderte den Bebauungsplan, das geplante NPD-Schulungszentrum wurde so unmöglich und Rieger ließ den Kauf platzen. Heute befindet sich in einem Teil des denkmalgeschützten Gebäudes ein chinesischer Imbiss, die restlichen Räume stehen leer.

Das Aktionsbündnis "Bahn für alle", dem unter anderem der Bund Naturschutz, die IG Metall und Attac angehören, hält auch noch aus anderen Gründen nichts vom Verkauf von Bahnhöfen. "Zu einem attraktiven Bahnverkehr gehört ein Bahnhof mit Wartemöglichkeiten, Beratung und Service. Ein knapper Regenschutz und ein stummer Fahrkartenautomat verschrecken Kunden", sagt Bündnissprecher Stefan Diefenbach-Trommer.

Information: Interessenten an Bahnhofsgebäuden können das aktuelle bundesweite DB-Angebot von Bahnhofsgebäuden online unter www.bahnliegenschaften.de einsehen. Näheres zu Wolfenbüttel und Joachimsthal findet sich unter www.kulturbahnhof-wf.de und www.joachimsthal.de.

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