Die großen Erbfälle: Geld - Macht - Hass:Einfach nur kafkaesk

Das Gezerre um den Nachlass des Prager Schriftstellers Franz Kafka ist eine unendliche Geschichte. Der neueste Schauplatz in dem Drama heißt Israel.

Klaus Brill

Pablo Picasso vererbte 300 Millionen Euro, um die sich mehrere Frauen und Kinder ausdauernd stritten. Napoleon vermachte Vermögen, das ihm nicht mehr gehörte. Wer stirbt, hinterlässt eben nicht nur Geld. Oft genug entstehen schlimme Konflikte - oder alte Familienstreits brechen wieder auf. Die spannensten Erbfälle - eine neue SZ-Serie.

Franz Kafka, um 1920

Franz Kafka - etwa im Jahr 1920. Die Aufnahme zeigt den Schriftsteller in der Altstadt von Prag. Rund vier Jahr später starb er.

(Foto: ag.dpa)

Es war ein kleiner Zettel, mit Tinte beschrieben, weshalb man ihn später den Tintenzettel nannte. Der Text bestand nur aus zwei Sätzen. Franz Kafka hat sie wohl im September 1921 niedergeschrieben, knapp drei Jahre vor seinem Tod. Dass der Adressat, sein Freund Max Brod, die darin geäußerte Bitte so vorsätzlich und nachhaltig missachtete, hatte nicht nur für die beiden Schriftsteller schwerwiegende Folgen. Niemals hätte sonst auch die Welt davon erfahren, dass schon am Anfang des 20. Jahrhunderts in Prag ein deutschsprachiger Dichter die subtilen Schrecken der Moderne in die Form von Romanen und Erzählungen zu kleiden wusste, die heute zum Kernbestand der großen Literatur gehören.

Der leitende Versicherungsangestellte und Dr. jur. Franz Kafka, als Autor damals nur einem kleinen Kreis im deutschsprachigen Prager Intellektuellenmilieu bekannt, wollte einige seiner später bekanntesten Werke vernichtet sehen. "Liebster Max", so schrieb er, "meine letzte Bitte: alles, was sich in meinem Nachlass (also im Bücherkasten, Wäscheschrank, Schreibtisch zuhause und im Bureau oder wohin sonst irgendetwas vertragen worden sein sollte und Dir auffällt) an Tagebüchern, Manuscripten, Briefen, fremden und eigenen, Gezeichnetem u.s.w findet, restlos und ungelesen zu verbrennen, ebenso alles Geschriebene oder Gezeichnete, das Du oder andere, die Du in meinem Namen darum bitten sollst, haben. Briefe, die man Dir nicht übergeben will, soll man wenigstens selbst zu verbrennen sich verpflichten. Dein Franz Kafka."

"Ausnahmslos verbrennen"

Gut ein Jahr später, am 22. November 1922, verfasste der Autor, lungenkrank daniederliegend, eine weitere Notiz an Brod, den sogenannten Bleistiftzettel, der im Nachlass gefunden wurde. Darin bekräftigte er seinen vorher schon geäußerten "letzten Willen" und ließ nur die fünf bis dahin veröffentlichten Bücher und eine Erzählung gelten, alles andere sei "ausnahmslos zu verbrennen". Es wird berichtet, Max Brod habe dem Freund beizeiten signalisiert, dass er einer solchen Bitte in keinem Falle nachkommen werde. Denn er war zutiefst vom hohen künstlerischen Wert dessen überzeugt, was Kafka noch in seinen Schubladen verwahrte. Dies waren zum Beispiel die Romanfragmente "Der Process", "Das Schloss" und "Amerika", aber auch kürzere Texte, darunter der berühmte "Brief an den Vater", sowie andere Briefe und die Tagebücher; 3400 Druckseiten im Ganzen und damit das Zehnfache dessen, was Kafka selbst zu Lebzeiten publizierte.

Max Brod tat das genaue Gegenteil des Erwünschten. Kaum dass Kafka am 3. Juni 1924 im Alter von 40 Jahren in einem Sanatorium bei Wien an Tuberkulose verstorben war, nahm er Kontakt zu mehreren Verlegern auf. Schon nach zwei Monaten kündigte er öffentlich an, im Berliner Verlag "Die Schmiede" werde der "Prozess" erscheinen; dies geschah im April 1925. Im Jahresabstand folgten "Das Schloss" und "Amerika".

Es gehört zu Kafkas Schicksal, dass nicht nur sein Leben durch absurde Hemmnisse verzerrt war, sondern auch sein Nachleben. Jahrzehnte brauchte es, bis sein Werk nach dem Zweiten Weltkrieg die verdiente Anerkennung fand, zunächst in den USA und Frankreich, dann auch im deutschsprachigen Raum. Am längsten dauerte es in seiner Heimatstadt Prag, wo am Anfang, in den 1920er- Jahren, nur ein paar Spezialisten deutscher und tschechischer Sprache ihn zu schätzen wussten. Dann verfemten ihn, weil er Jude war, die Nazis, die seit 1938 Prag beherrschten. Den Kommunisten, 1948 an die Macht gelangt, kam seine Art der Weltbetrachtung bürgerlich-dekadent und aufrührerisch vor. Erst die Wende von 1989 befreite sein Werk, erst seit 2007 liegen alle Schriften Kafkas endlich auch in tschechischer Sprache vor, herausgegeben von der neugegründeten Franz-Kafka-Gesellschaft zu Prag.

Beengende Befremdlichkeit

Kafkas Werk geriet immer wieder in die Mühlen der Geschichte und der Politik, und bis heute hat das kein Ende. Israel ist der neueste Schauplatz eines Streits um den Nachlass Kafkas und Brods, und auch dieser Episode haftet jene beengende Befremdlichkeit an, die man seit Kafka als kafkaesk bezeichnet. Immer noch geht es um die Frage, was Brod entgegen den Bitten auf dem Tinten- und dem Bleistiftzettel mit Kafkas Manuskripten und Briefen tat.

Flucht nach Tel Aviv

Er sammelte sie ein, auch bei Freunden und Bekannten, und verwahrte sie zunächst in seiner Prager Wohnung. 1939 packte er sie in einen Lederkoffer und floh damit nach Tel Aviv; einen Tag nach der Abreise stand die Gestapo vor der Tür. Brod ließ sich im neugegründeten Staat Israel nieder. Die Manuskripte von "Das Schloss" und "Amerika" schenkte er der Universität Oxford, die restlichen Handschriften Kafkas und den eigenen Nachlass vermachte er der Freundin Ilse Ester Hoffe. Sie war wie Brod jüdischen Glaubens, in Tel Aviv war sie seine Sekretärin.

Nach Brods Tod im Jahre 1968 hielt Ester Hoffe die Dokumente bis zum eigenen Ableben im Jahr 2007 unter Verschluss, dann gingen sie in den Besitz ihrer beiden Töchter über. Allerdings hatte Ester Hoffe das Manuskript von "Der Process" 1988 bei Sotheby's in London versteigern lassen - ein Münchner Antiquar erwarb es im Auftrag der deutschen Bundesregierung für 3,5 Millionen Mark und gab es weiter an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach. Auch andere Manuskripte wurden verkauft, sie ruhten seit 1956 sicher im Safe einer Bank in Zürich. "Was noch da ist von Kafka, sind wahrscheinlich einige Dutzend Zeichnungen, und vielleicht noch das eine oder andere Manuskript, aber das sind keine Texte, die wir nicht kennen", sagte unlängst der Kafka-Biograph Rainer Stach zu Radio Prag.

Ester Hoffes Töchter würden diese Dokumente und den Nachlass Max Brods gerne ebenfalls nach Marbach verkaufen, doch daran hindert sie seit geraumer Zeit der Staat Israel. Er betrachtet die Hinterlassenschaften Brods, die sich zum Teil auch in einem Banksafe in Tel Aviv befinden, jetzt als "nationales Kulturgut" und beansprucht sie fürs eigene Nationalarchiv. Die Sache ist vor Gericht anhängig, der Ausgang offen.

Brod hat seinen Einsatz für den Freund damit bezahlt, dass er in die Literaturgeschichte mit dieser editorischen Sonderleistung einging und nicht mit seinem eigenen Werk. Doch alles retten konnte auch er nicht. Kafka selbst hat etliche Manuskripte zerstört. Und Dora Diamant, die Gefährtin seines letzten Lebensjahres, mit der er am Ende in Berlin lebte, handelte ebenfalls so, wie Kafka es erbat: Sie verbrannte alles. Und dennoch zeigt der Fall Kafka: Es kann gut sein, dass ein Testament in sein Gegenteil verkehrt wird. Wenn nicht für den Erblasser, dann doch für den Rest der Welt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: