Der Schrank:Eigernordwand in Furnier

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Meist ist er nur noch im Schlafzimmer zu finden. Die seltsame Karriere eines sehr bürgerlichen Möbelstücks.

Von Oliver Herwig

Online-Anzeigen beginnen oft so: "Schöner, stilvoll geschwungener Eichenschrank mit Glastüren. Dreißiger Jahre. Geschmiedete Beschläge." Dann heißt es etwas verschämt: "Ein Glasfensterchen ist leider zu Bruch gegangen." Schließlich wird hinterhergeschoben: "Ohne Inhalt!" Und natürlich muss das Möbel abgeholt werden. Seit Jahren spült das Netz die Ausstattung der Nachkriegsgeneration an die Oberfläche. Was Großtanten und Omas an Schätzen des Gelsenkirchener Barocks zusammentrugen, wird von Enkeln und Großnichten großzügig aufgelöst oder entsorgt. Wer allerdings auf den Gedanken kommt, die für wenig Geld angebotenen Prachtstücke in hochglanzpoliertem Wallnussfurnier als Schnäppchen zu erwerben, sollte gleich Spediteure mitbestellen, die fast zwei Meter breite Stücken schultern. Was aber sagen diese Fundstücke über uns aus?

Der Schrank steht für eine besondere Geschichte: den unaufhaltsamen Aufstieg des Bürgertums, das immer mehr ansammelte und dieses mehr schließlich ausstellen wollte, wie es die aristokratischen und klösterlichen Kabinettschränke des 16. Jahrhunderts vorgemacht hatten. Ihren Ursprung als gekippte Kiste sieht man ihnen noch an. Auf einem kastenförmigen Unterbau erhob sich ein zweitüriger Aufsatz, dessen Schnittwerk oft antike Anklänge zeigte. Er musste sich erst noch gegen die Truhe durchsetzen, bis er in der bürgerlichen Stube Karriere machen konnte. Ein Schrank des Manierismus war ein Stück verkleinerter Architektur, eine augenzwinkernde Mischung aus überbordendem Schnitzwerk - Säulen, Gesimse und Voluten - und dem eigentlichen Aufbewahrungsort für Kleider, Dokumente und mehr. Er blieb ein Stück für die Ewigkeit: monumental und unbeweglich. Und es dauerte lange, bis der Schrank sich von so viel Deko befreite. Noch im 19. Jahrhundert war er repräsentativ und wuchtig.

Die Schrankwand war damals ein Kraftpaket in Eiche. Und als solche kaum totzukriegen

Bauhaus, Pressspan und Geometrie brachten die Wende und ein Jahrhundert der Funktion. Doch die bürgerliche Schrankwand war nie nur schlank und filigran, sondern ein Kraftpaket in Eiche. Und als solche kaum totzukriegen. Bis in die Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts hatte es das meist viel zu kleine Wohnzimmer im Griff. Tische, Sessel und Kommoden spielten nur die zweite Geige. Der Blickfang war sie, die Schrankwand. Unverrückbar. Wie für die Ewigkeit gezimmert. Da türmte sich gegenüber der Fensterfront eine Eigernordwand in Furnier auf, welche die Familienschätze zugleich ausstellte und schützte. Hinter maschinell geschliffenem Glas standen die Römer, in der Schublade lauerten diverse Besteckkästen, und zwischen Bücherbund-Klassikern thronte die HiFi-Anlage, wobei die Boxen meist in todesmutiger Kletterei auf den Schrank platziert oder neben ihn abgestellt wurden.

Die massive Schrankwand beherrschte lange Zeit die deutschen Wohnzimmer. Auch heute noch ist sie vielerorts zu finden, wenn auch in weniger kompakter Form. (Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa, Imago)

Der Schrank war mehr als eine bloße Möglichkeit, die Dinge des Alltags aufzubewahren. Er war eher eine Idee und bot ein Versprechen auf immerwährende Gemütlichkeit. Der Schrank hatte alle Kriegswirren überstanden und blieb unverrückbar er selbst. Die Welt mochte sich verändert haben, das Wohnraumbuffet tat so, als gäbe es noch einen bürgerlichen Salon.

Inzwischen hat sich das Schrankproblem im Wohnzimmer weitgehend gelöst. Es gibt ihn nämlich nur noch in abgeschwächter Form, harmlos wie ein Schnupfen im Vergleich zur echten Grippe, mit aufgelösten Fronten und viel Wand. Das Wohnzimmer ist ja auch nicht mehr der Repräsentationsort, sondern eher ein temporärer Vielzweck-Arbeits-Spaß-und-Multimedia-Raum. Die Kampfzone hat sich dafür ins Schlafzimmer verlagert, in dem traditionsgemäß auch die Kleider Platz finden. Hier tobt die Schlacht um Stauraum und Quadratzentimeter, wo noch irgendein Stück, irgendeine Bluse, Handtasche oder Hemd aufbewahrt werden kann.

Fashion-Victims kennen das. Irgendwann platzt auch die größte Schrankwand aus allen Nähten, spätestens, wenn Pullover zu Briketts gepresst werden und Anzüge so eng nebeneinander hängen, dass man sich Reinigung und Bügeln sparen kann. Dann, spätestens dann, muss eine begehbare Garderobe her.

Bücher lassen sich schließlich digitalisieren, Compactdiscs sowieso, doch Kleidung braucht einfach viel Platz. Erst sind es Kisten, die auf den Schrank gepackt werden oder irgendwo sonst lagern, dann wird auch noch das letzte Stück Luftraum bis zur Decke verblendet. Schließlich hilft nur noch ein radikaler Schnitt. Der Siegeszug der Konsumgesellschaft ist am Kleiderschrank abzulesen. Vor bald 20 Jahren setzte eine gewisse Carrie Bradshaw bei "Sex and the City" neue Maßstäbe, die nur noch von Imelda Marcos übertroffen wurden.

Der Fernseher verbarg sich hinter Läden, die aufgeklappt wurden wie die Flügel eines Altars

Seither sind große Schranksysteme Pflicht - sie können Schritt für Schritt wachsen und schließlich das gesamte Schlafzimmer übernehmen, dazu helle Fronten und viel Licht, das anspringt, sobald eine Tür aufgeschoben wird. Bei allen Veränderungen hat sich doch etwas gehalten: Schränke sind neutral und eben nicht transparent. "Weiß geht immer", sagt Angard Krüger, Diplomdesignerin bei den Münchner Wohnberatern. Und setzt hinzu: "Schränke werden immer öfter in Etappen gebaut, zusammengesetzt aus Modulen." Damit lässt sich prima umziehen. Denn auch das muss ein Schrank von heute können. Er ist ja nicht mehr eine unbewegliche Biedermeier-Veranstaltung.

Lavendelsäckchen gegen Motten aufhängen, Sachen reinquetschen. Tür zu. Dass hier die eigentlichen Abenteuer warten, hat niemand besser erkannt als Hollywood. Denn der Schrank ist irgendwie unheimlich. Er öffnet womöglich die Tür zu anderen Dimensionen oder verbirgt sonstige Monster. Und er ist die perfekte Besetzung für Screwball-Komödien und Verwechslungsgeschichten, in denen der Liebhaber schnell mal hinter Schiebetüren verschwindet. Wie auch immer: Der Schrank ist schon ein seltsames Möbel, eine Art Minispeicher für die Wohnung, in dem etwas vor sich hin staubt, langsam untragbar wird oder zur Schatzkiste für Urenkel, die sich mit Vintage wieder eindecken.

Eine spezielle Karriere legte der Schrank nochmals als Möbel hin, in dem technische Geräte weggeschlossen wurden, Radio, Plattenspieler und Fernseher, was paradoxerweise ihre Präsenz erhöhte. Spätestens, wenn die Läden aufgeklappt wurden wie die Flügel eines Altars, kam der Fernseher wieder zum Vorschein, als Objekt der Anbetung, um das sich die Familie versammelte, um die (meistens gar nicht so) frohe Botschaft in Form der abendlichen Nachrichten zu empfangen.

Mit dem verschämt-sakralen Phonomöbel hatte sich also ein Kreis geschlossen. Doch nur für kurze Zeit. Denn die Unterhaltungselektronik wird längst nicht mehr verschämt verborgen, sondern stolz präsentiert, und Nippes hat auch auf einem einfachen Regal Platz. Der Schrank aber ist verschwunden. Zumindest aus dem Wohnzimmer.

© SZ vom 24.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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