Süddeutsche Zeitung

David Rockefellers Erinnerungen I:Vom Fünf-Dollar-Lehrling zum Milliardär

Größter Krimineller seiner Zeit oder Wohltäter der Menschheit? - der Öltycoon John D. Rockefeller war eine umstrittene Persönlichkeit. Sein Enkel David Rockefeller verteidigt in seinen Memoiren seinen Großvater.

David Rockefeller, 92, leitete mehr als 20Jahre lang die Chase Manhattan, eine der größten Banken der Welt, in New York. In seinen jetzt auf deutsch erscheinenden Memoiren, aus denen die Süddeutsche Zeitung exklusiv Auszüge druckt, schildert er sein Leben - beginnend mit Erinnerungen an den legendären John D. Rockefeller, Gründer der Dynastie. David verteidigt den geliebten Großvater leidenschaftlich gegen vielfältige Kritik.

"Großvater hatte für fünf Dollar pro Woche als Büroangestellter in einem Warenhaus in Cleveland, Ohio, begonnen und schließlich die Standard Oil Company gegründet und geleitet, ein Unternehmen, das praktisch die ganze Ölindustrie der Vereinigten Staaten darstellte, bis der Oberste Gerichtshof 1911 den Konzern nach einem erbitterten Rechtsstreit auflöste. Viele der Unternehmen, die nach der Zerschlagung entstanden, gibt es noch heute: Exxon Mobil, Chevron, Amoco und noch etwa 30 weitere.

Standard Oil machte Großvater reich, möglicherweise zum reichsten Mann in den USA. Er war aber auch den größten Teil seines Lebens einer der verhasstesten. Die Boulevardpresse griff die Unternehmenspraktiken von Standard Oil immer wieder an und bezichtigte den Konzern krimineller Machenschaften - inklusive Mord - in dem unermüdlichen Bestreben, die gesamte Konkurrenz auszuschalten und die Monopolstellung in der Ölindustrie auszubauen. Robert La Follette, der mächtige Gouverneur von Wisconsin, bezeichnete ihn als den "größten Kriminellen seiner Zeit". Die amerikanische Journalistin Ida Tarbell, die durch ihre Pamphlete vielleicht mehr als alle anderen dazu beigetragen hat, Großvaters Image als habgieriger und skrupelloser Räuberbaron zu manifestieren, schrieb: "Es gibt kaum Zweifel, dass Mr. Rockefellers Hauptgrund, Golf zu spielen, darin besteht, länger zu leben, um mehr Geld zu verdienen."

Heute würden die meisten Historiker zustimmen, dass das damalige Bild von Standard in höchstem Maße voreingenommen und häufig unkorrekt war. Großvater und seine Partner waren harte Konkurrenten, aber sie waren höchstens im Sinne der damals üblichen Geschäftsgebaren schuldig. Es war eine andere Welt in jener Zeit. Nur wenige der Gesetze, die heute den Wettbewerb regeln, waren vorhanden. Standard fungierte als Vorreiter auf dem Gebiet der Wirtschaft: ein neues, noch unerforschtes Territorium, in manchen Fällen buchstäblich wie der Wilde Westen. Die Preise kreisten wild durcheinander und es gab große Schwankungen bei der Produktion, es gab entweder zu viel oder zu wenig Öl. Großvater war nicht romantisch; er hielt die Situation für spekulativ, kurzsichtig und unwirtschaftlich und er begann hartnäckig, die Verhältnisse zu ändern. Die Anschuldigung, dass Standard Witwen um ihre Anteile betrogen, Konkurrenzunternehmen in die Luft gesprengt und Wettbewerber mit allen verfügbaren Mitteln in den Ruin getrieben habe - immer wieder munter von Tarbell und anderen wiederholt -, sind absolute Erfindungen.

Fortsetzung auf der nächsten Seite: Ein strenger Baptist - kein Alkohol, kein Rauchen, kein Tanzen.

Mein Vater, der später seine eigenen Schwierigkeiten mit der Presse hatte, pflegte Großvaters Gelassenheit im Angesicht eines über ihn hereinbrechenden Sturms immer mit einem gewissen Neid zu beschreiben. Als Großvater das Buch von Tarbell las, bemerkte er zu jedermanns Erstaunen, dass er es "durchaus vergnüglich" finde. In meinen Augen war es Großvaters tiefer religiöser Glaube, der ihm die Gelassenheit, das Selbstbewusstsein angesichts der persönlichen Angriffe und das ausgeprägte Selbstvertrauen gab, die ihn in die Lage versetzten, die amerikanische Ölindustrie zu konsolidieren. Er war ein überzeugter Christ, der nach den strikten Regeln des Glaubens der Baptisten lebte.

Kein Alkohol, kein Rauchen, kein Tanzen

Großvater war in bescheidenen Verhältnissen im Zentrum des Staates New York aufgewachsen. Sein Vater William Rockefeller war wohl mehr oder weniger ständig abwesend und hatte eine etwas dunkle Vergangenheit, aber seine Mutter, Eliza Davison Rockefeller, die Großvater und seine Geschwister allein großzog, war eine außergewöhnlich gottesfürchtige und charakterfeste Frau. In unserer von weltlichen Dingen geprägten Zeit ist es schwierig, sich ein Leben vorzustellen, das von einem starken Glauben geprägt ist.

Für viele scheint obendrein ein Leben nach den strikten Regeln der Baptisten - kein Alkohol, kein Rauchen, kein Tanzen - eine unerquickliche Existenz zu sein. Aber Großvater trug die Gebote seiner Religion, all diese Dinge, die uns eine Last wären, mit Leichtigkeit und Freude. Er war der am wenigsten verdrießliche Mensch, den ich jemals kennengelernt habe; er lächelte ständig, war immer zu einem Scherz aufgelegt und erzählte lustige Geschichten. Häufig fing er beim Dinner an, leise eines seiner Lieblingslieder zu singen. Er sang nicht für irgendjemanden; es war eher, als wenn ein Gefühl von Frieden und Zufriedenheit aus ihm herausströmte.

Rockefeller kaute sogar Milch

Als Junge ging ich gelegentlich von Abeyton Lodge, dem Haus meiner Eltern, zum Hügel, auf dem Kykuit stand, um mit meinem Großvater zu frühstücken oder zu Mittag zu essen. Die Entfernung betrug ungefähr eine Viertelmeile. Zum Frühstück aß Großvater ausnahmslos Haferbrei, nur mit Butter und Salz und nicht mit Sahne und Zucker. Er aß sehr langsam und kaute jeden Bissen sorgfältig, denn er hielt es für eine wichtige Hilfe bei der Verdauung. Er war der Meinung, dass man sogar Milch kauen sollte, was er auch tat!

Großvater war von Natur aus bescheiden, und obwohl er ein Leben lebte, das sich nur Leute mit einem großen Vermögen leisten konnten, war er verhältnismäßig bedürfnislos. Zu einer Zeit, als sich die Carnegies, Fricks, Harrimans und Vanderbilts herrschaftliche Wohnsitze an der Fifth Avenue bauen ließen, kaufte Großvater ein Haus in einer Seitenstraße, dessen bisherige Mieterin, Arabella Worsham, die Geliebte von Collin P. Huntington war.

Es war zwar ein sehr großes Sandsteinhaus und Großvater kaufte diverse anschließende Gebäude, in die später die wachsende Familie ziehen konnte, aber es sagt etwas über ihn aus, dass er sich nie die Mühe gemacht hat, es zu renovieren. Mrs. Worshams rote Plüschtapeten und die schweren, reich verzierten viktorianischen Möbel blieben Zeit seines Lebens im Haus.

Großvater entbehrte jeglicher Eitelkeit. Er gab wenig auf Äußerlichkeiten. Als junger Mann war er gut aussehend gewesen, aber in den 1890er-Jahren erkrankte er an einer schmerzhaften Virusinfektion, Alopezie genannt, die sein Nervensystem angriff. Als Folge der Krankheit verlor er sein ganzes Haar. Auf einem Foto aus dieser Zeit trägt er eine schwarze Scheitelkappe, die ihn ein wenig wie den Kaufmann von Venedig aussehen ließ. Später trug er Perücken.

Kein Interesse an Schlössern in Frankreich

Großvater fand es schwierig, sein Vermögen, das 1910 beinahe eine Milliarde Dollar betrug, zu verwalten. Sein jährliches Einkommen von Standard Oil und aus anderen Investitionen war enorm, und Großvaters akribischem Naturell entsprechend musste es anständig angelegt werden.

Da er kein Interesse daran hatte, Schlösser in Frankreich oder Schottland zu besitzen, und ihn der Gedanke, Kunst, Yachten oder mittelalterliche Ritterrüstungen zu kaufen - Aktivitäten, die seine extravaganten Zeitgenossen pflegten -, mit Entsetzen erfüllte, fand Großvater eine charakteristische Lösung: Er investierte einen großen Teil seiner Einnahmen in Kohlengruben, Eisenbahnen, Versicherungen, Banken, verschiedenste Produktionsbetriebe vor allem im Bereich Eisenerz und kontrollierte schließlich einen Großteil der Eisenerzvorkommen Mesabi Range in Minnesota.

Aber nachdem sich Großvater 1897 von Standard zurückgezogen und zur Ruhe gesetzt hatte, begann er, sich verstärkt mit einer anderen Form der Investition zu beschäftigen: Philanthropie, auf die er als die "Kunst des Gebens" verwies. Indem er Gutes tat, empfand er die gleiche Befriedigung wie während seiner Zeit bei Standard Oil.

Jeder Penny im "Hauptbuch A"

Seit er ein junger Mann gewesen und gerade ins Geschäftsleben eingetreten war, hatte Großvater jede Einnahme und Ausgabe, inklusive Spenden für wohltätige Zwecke, bis auf den Penny in einer Reihe von Hauptbüchern, beginnend mit dem berühmten "Hauptbuch A", notiert. Indem er es tat, folgte Großvater der religiösen Verordnung des "Zehnten". Mit anderen Worten: Er gab den zehnten Teil seines Einkommens an die Kirche oder für andere gute Zwecke.

Mitte der 1880er-Jahre fand Großvater es schwierig, die karitativen Spenden selbst zu verwalten. Genau genommen handelte es sich um einen der hauptsächlichen Stressfaktoren für ihn in jenen Jahren. Er fühlte sich nicht nur verpflichtet zu geben, sondern, klug zu geben, was viel schwieriger ist. "Es ist leicht, Schaden zu verursachen, indem man Geld gibt", schrieb er.

Inzwischen überschritt sein jährliches Einkommen eine Million Dollar und zehn Prozent davon zu verteilen war eine Vollzeitbeschäftigung. Schließlich engagierte er Reverend Frederick T. Gates, einen Baptistenprediger, um einen wohlüberlegteren und systematischeren Weg zu finden, Einzelmenschen und Organisationen einzuschätzen, die um Spenden baten.

Die Rockefeller Foundation, 1913 gegründet, war die erste philanthropische Organisation mit einer speziellen, globalen Vision und die Krönung von Großvaters Bestrebungen, eine Struktur zu schaffen, die in der Lage war, sein Vermögen für wohltätige Zwecke zu verwalten. Großvater stellte der Foundation über einen Zeitraum von zehn Jahren mehr Geld zur Verfügung - ungefähr 182 Millionen Dollar, das sind mehr als zwei Milliarden Dollar heute - als jeder anderen Institution.

Die Foundation kämpfte gegen Hakenwürmer, Gelbfieber, Malaria, Tuberkulose und andere Infektionskrankheiten. In späteren Jahren wurde sie führend in der Entwicklung von Hybridformen von Korn, Weizen und Reis, die als Basis für die Grüne Revolution dienten, die so viel dazu beigetragen hat, Gesellschaften auf der ganzen Welt zu verändern."

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Quelle:
SZ vom 02.04.2008/jkr
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