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Bundesbank: Rücktritt von Sarrazin:Die Provokationen des Thilo S.

Tagelang weist Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin Rücktrittsforderungen vehement zurück. Am Ende geht er doch - mehr oder weniger freiwillig und angeblich ohne Abfindung. Eine Übersicht im Zeitraffer.

Hans von der Hagen

Provoziert wird aus zwei Gründen: aus Lebenslangeweile - oder aus Ärger über verkrustete Denkschemata. Thilo Sarrazin hat vermutlich aus beiden Gründen provoziert, so konsequent und wahllos verstreute er seine Wortgranaten.

Dabei war es völlig unerheblich, wo er gerade arbeitete. Schon 2002, gerade erst zum Finanzsenator in Berlin gewählt, stänkerte er munter über die Regierten: "Nirgendwo sieht man so viele Menschen, die öffentlich in Trainingsanzügen rumschlurfen wie in Berlin."

Aber auch an seinen Kollegen ließ er kein gutes Haar: "Die Beamten laufen bleich und übelriechend herum, weil die Arbeitsbelastung so hoch ist." Ein paar Jahre später schlug er vor, Bremen und Saarland als Bundesländer aufzulösen, und rechnete vor, dass mit einem Tagessatz von 4,50 Euro eine ausgewogene Ernährung möglich sei. Untergewicht sei das kleinste Problem der Hartz-IV-Empfänger.

Am liebsten aber drosch er auf Migranten ein. In einem Interview mit dem Berliner Magazin Lettre International im Oktober 2009 formulierte er es so: "Jeder, der bei uns etwas kann und anstrebt, ist willkommen; der Rest sollte woanders hingehen." "Türkische Wärmestuben" könnten die Stadt Berlin nicht vorantreiben.

Die Türken eroberten Deutschland genauso, wie die Kosovaren den Kosovo erobert hätten - durch eine höhere Geburtenrate, die Produktion von "Kopftuchmädchen". Und er kam schon damals auf sein Spezialthema: den Intellekt. "Das würde mir gefallen, wenn es osteuropäische Juden wären, mit einem 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung." Viele forderten daraufhin seinen Rücktritt bei der Bundesbank, doch die hielt ihn noch aus - bis jetzt. Am Donnerstagabend trat der Provokateur zurück.

Die Ereignisse und prägnantesten Äußerungen zum Thema Sarrazin im Überblick.

Sonntag, 29.08.

Zum Verhängnis wird Sarrazin nicht allein sein Buch Deutschland schafft sich ab, sondern vor allem ein Satz im Interview mit der Welt am Sonntag. "Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen, Basken haben bestimmte Gene, die sie von anderen unterscheiden", heißt es dort.

Plötzlich steht Sarrazin nicht mehr nur als Provokateur da - der Zentralrat der Juden in Deutschland geißelt vielmehr den "Rassenwahn" des Bundesbankers. Sarrazin behauptet, er wollte nur das "große gesellschaftliche Bedürfnis nach ungeschminkter Wahrheit" befriedigen. Hierzulande könnten "subjektiv empfundene Wahrheiten nur dosiert vorgetragen werden".

Noch am gleichen Tag verurteilt Kanzlerin Angela Merkel Sarrazins Äußerungen als "vollkommen inakzeptabel". Das schlimmste sei, dass Sarrazin die notwendige Auseinandersetzung mit dem Thema Integration nicht voranbringe, sondern verschärfe.

Merkel macht klar, dass sie von der Bundesbank eine Reaktion erwarte: Sie sei sich darum "ganz sicher, dass man auch in der Bundesbank darüber sprechen wird". Die Bundesbank sei für das ganze Land ein Aushängeschild - "nach innen wichtig, aber auch nach außen wichtig".

In Bayern heißt es schlicht: "Der Typ hat einen Knall." So formuliert es CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt.

Montag, 30.08.

Einen Tag später beschäftigt sich die SPD-Spitze mit ihrem Parteimitglied Sarrazin: SPD-Generalsekretärin Nahles sagt, Sarrazins Äußerungen seien weit abgedriftet von den Werten der Sozialdemokratie. Seine genetische Definition der Juden sei absolut inakzeptabel - unabhängig davon, welche Attribute er ihnen zuschreibe.

Die SPD drängt Sarrazin dazu, die Partei freiwillig zu verlassen - und bereitet ein neues Parteiauschlussverfahren vor. Ein erster Anlauf war im Frühjahr gescheitert.

Doch Sarrazin wehrt sich: Schriftlich drückt er sein Bedauern über "Irritationen und Missverständnisse" aus. Mit seinen Äußerungen zur Genetik sei "keinerlei Werturteil verbunden". Er habe sich nur nicht "hinreichend präzise" ausgedrückt, sondern sich mit seiner Äußerung auf neuere Forschungen aus den USA bezogen, die nahelegten, "dass es in höherem Maße gemeinsame genetische Wurzeln heute lebender Juden gibt, als man bisher für möglich hielt".

In seinem Buch stehe aber nichts, "was den Parteiausschluss rechtfertigt". Er wolle die SPD schon deshalb nicht verlassen, weil diese Fragen in die großen Volksparteien gehörten - nicht in die Hand neuer Parteien. "Ich habe vor, das SPD-Parteibuch mit ins Grab zu nehmen".

Die Soziologin Necla Kelek fordert, die Thesen Sarrazins inhaltlich zu diskutieren. "Hier hat ein verantwortungsvoller Bürger bittere Wahrheiten drastisch ausgesprochen und sich über Deutschland den Kopf zerbrochen", schreibt die in Istanbul geborene Muslimin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Erstmals distanziert sich auch die Bundesbank von Sarrazin: Seine Äußerungen würden der Bundesbank schweren Schaden zufügen. Kurz zuvor hatte ein Regierungssprecher nochmals betont: "Die Bundesregierung sieht das nationale und internationale Ansehen der Bundesbank durchaus beeinträchtigt durch die Äußerungen von Herrn Sarrazin."

Der wiederum sagt, er kenne seinen Dienstvertrag und wisse, dass er "keine dienstlichen Obliegenheiten verletzt" habe. Das Gesetz legt viele Hürden vor die Abberufung eines Bundesbank-Vorstands - billigen muss sie am Ende der Bundespräsident.

Dienstag, 31.08.

Eine geplante Lesung mit Sarrazin in Hildesheim wird abgesagt. Michael Jens, Geschäftsführer der Buchhandlung Decius, die Sarrazin zu der Lesung eingeladen hatte, begründet die Absage mit "Sicherheitsbedenken".

Unterdessen hagelt es Kritik an der Bundesbank: Die Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales, Katja Kipping (Linke), fordert eine gesetzliche Neuregelung der Besetzung von Vorstandsposten bei der Bundesbank - und warnte Bundesbank-Präsident Axel Weber angesichts der Migrantenkritik von Bankvorstand Thilo Sarrazin vor der Aufkündigung der Unabhängigkeits-Privilegien, falls nicht umgehend Sarrazins Abberufung eingeleitet werde. Das "tagelange Schweigen" überrasche, sagt Kipping.

Noch am Nachmittag wird Thilo Sarrazin zu einem Gespräch mit dem Bundesbankvorstand nach Frankfurt zitiert.

Mittwoch, 01.09.

Sarrazins Buch verkauft sich unterdessen glänzend: Der Münchner Verlag DVA bringt die dritte Auflage mit 30.000 Exemplaren in den Handel - die ersten beiden Auflagen umfassten insgesamt 40.000 Stück. Eine vierte Auflage sei in Vorbereitung und sollte wenige Tage später mit 80.000 Exemplaren in den Buchläden liegen.

Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) kritisiert Sarrazin scharf. "Ich habe eine Vorstellung davon, dass diese Art von Tabuverletzungen unser Land nicht voranbringt. Oder wenn überhaupt, nur das Gegenteil." Sarrazins Äußerungen nennt er "verantwortungslosen Unsinn" - und teilt mit, dass er mit Bundesbank-Präsident Axel Weber gesprochen habe.

Doch der Bundesbankvorstand vertagt sich zunächst ergebnislos - möglicherweise ist das ein Grund für Bundespräsident Wulff, sich weit aus dem Fenster zu lehnen: "Ich glaube, dass jetzt der Vorstand der Deutschen Bundesbank schon einiges tun kann, damit die Diskussion Deutschland nicht schadet - vor allem auch international". Damit deutet Wulff an, dass er einen Rauswurf von Sarrazin befürworten würde.

Donnerstag, 02.09.

Auch EZB-Präsident Jean-Claude Trichet distanziert sich von Sarrazin. "Als Bürger finde ich die Aussagen abstoßend", sagt der Chef der Europäischen Zentralbank. Zugleich sprach er der Bundesbank, die mit ihrem Präsidenten Axel Weber im EZB-Rat vertreten ist, sein Vertrauen aus. "Als Präsident der EZB habe ich volles Vertrauen in die Bundesbank", sagt Trichet.

Aber wie kann die Sarrazin loswerden? Juristen betonen, dass das schwierig werden könnte. Erst am Donnerstag ringt sich die Bundesbank zu einer Entscheidung durch: Der Vorstand habe einstimmig beschlossen, beim Bundespräsidenten die Abberufung Sarrazins zu beantragen, heißt es.

Umgehend lässt Kanzlerin Angela Merkel mitteilen: "Die Bundeskanzlerin hat die unabhängige Entscheidung des Bundesbankvorstands mit großem Respekt zur Kenntnis genommen." Bundespräsident Wulff gibt sich plötzlich schweigsam: "Bis zum Abschluss der Prüfung kann der Bundespräsident nicht Stellung nehmen", hieß es in einer dürren Mitteilung.

Am Abend leitet der Berliner SPD-Kreisverband Charlottenburg-Wilmersdorf ein Ausschlussverfahren gegen Sarrazin ein.

Freitag, 03.09.

Alle reden über Integration: Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sagt, über Integration insbesondere im Zusammenhang mit dem Islam müsse selbstbewusst diskutiert werden. Man brauche allerdings "keinen Anstoß von einem Provokateur", der "mit der Provokation auch noch Geld verdient".

Die bayerische FDP-Landesvorsitzende Sabine Leutheusser-Schnarrenberger räumt ein, es sei unstreitig, dass die Integration von Migranten in Deutschland nicht problemlos verlaufe. Und SPD-Chef Sigmar Gabriel möchte, dass die Bundesregierung regelmäßig über Integration Rechenschaft ablege: "Jeden Monat setzt die Arbeitslosenstatistik die Politik unter Druck, und das ist auch richtig so. Diesem öffentlichen Druck muss sich die Politik auch in Integrationsfragen aussetzen."

Bei der SPD-Basis gibt es nach Überzeugung von Gabriel nunmehr eine "breite Akzeptanz" für das Parteiausschlussverfahren. Dies zeigten auch die eingehenden E-Mails von Mitgliedern, sagt Gabriel. Bei den Zuschriften von Nichtmitgliedern scheine der Höhepunkt überschritten zu sein. Gabriel reagiert damit auf Berichte, wonach in der SPD in den vergangenen Tagen vorwiegend Reaktionen eingetroffen seien, in denen Sarrazin recht gegeben wird.

Sarrazins Buch ist ausverkauft. Aufgeregt verkündet der Verlag: Die Gesamtauflage werde bald bei 250.000 Exemplaren liegen. Bundespräsident Christian Wulff bittet derweil die Bundesregierung um eine Stellungnahme zur beantragten Entlassung von Sarrazin.

Samstag, 04.09.

Im Streit um die Integrationspolitik will die Bundesregierung mit einem "Aktionsplan Integration" in die Offensive gehen. Bundeskanzlerin Angela Merkel und weitere Politiker sprechen sich am Wochenende dafür aus, offensiver über Probleme und Erfolge der Integration zu reden.

Sarrazin warnt Wulff vor einem "politischen Schauprozess" und droht mit Klage. Er gehe davon aus, dass sich Wulff nicht ohne eine Anhörung einem Schnellverfahren anschließen werde. Wulff weist den Vorwurf umgehend zurück und lässt durch seinen Sprecher ausrichten: "Das Verfahren wird selbstverständlich und ausschließlich nach Recht und Gesetz durchgeführt." Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) mahnt eine intensive Auseinandersetzung mit den Thesen Sarrazins an. Es reiche nicht, "irgendwelche Ämter in Frage" zu stellen.

Sonntag, 05.09.

Wie eine repräsentative Emnid-Umfrage ergibt, würde fast jeder fünfte Deutsche (18 Prozent) eine neue bürgerliche Protestpartei wählen, wenn ihr Chef Sarrazin hieße. Besonders viel Zuspruch bekäme eine Sarrazin-Partei demnach bei Anhängern der Linkspartei (29 Prozent). Auch 17 Prozent der Unionswähler würden eine solche Formation wählen. Emnid-Chef Klaus-Peter Schöppner sagt, für diese Befragten sei Sarrazin jemand, "der endlich ausspricht, was viele denken".

Der frühere Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) kündigt an, er werde Sarrazin vor einer Schiedskommission der Partei verteidigen. "Einen fairen Prozess wird es ja wohl noch geben", sagt Dohnanyi. Sarrazin sei kein Rassist, niemand mit Sachkenntnis könne heute noch bestreiten, dass es "besondere kulturelle Eigenschaften von Volksgruppen" gebe.

Unterdessen übt der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler scharfe Kritik an Wulff. Der habe vor dem Antrag der Bundesbank auf eine Abberufung Sarrazins Formulierungen verwendet, die in der Presse als "Aufforderung zum Rausschmiss" angesehen worden seien. Eine solche "vorherige Festlegung" sei "ein Rechtsbruch".

Montag, 06.09.

Der frühere Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement wirft der SPD-Führung für ihren Umgang mit dem umstrittenen Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin Verleumdung vor. Die SPD gebe sich einer "hierzulande eingeübten Empörungskultur" hin. Jeder der Sarrazin kenne, "weiß, dass es verleumderisch ist, ihn auch nur in die Nähe rassistischer Überlegungen oder gar Überzeugungen zu bringen".

Nach der Bundes-SPD wollen aber auch die Berliner Sozialdemokraten Sarrazin nicht länger als Mitglied dulden. Der rund 40-köpfige SPD-Landesvorstand beschließt mit nur einer Gegenstimme und einer Enthaltung, ein eigenes Parteiordnungsverfahren gegen den früheren Berliner Finanzsenator einzuleiten.

Mittwoch, 08.09.

Jeder zweite Deutsche (50 Prozent) lehnt nach einer Umfrage für das Hamburger Magazin Stern eine Entlassung Sarrazins ab. Dass die Bundesbank ihn vor die Tür setzen will, findet rund ein Drittel (34 Prozent) richtig. 16 Prozent haben zu der Frage keine Meinung.

Ein ähnliches Bild ergibt sich auf die Frage, ob Sarrazin aus der SPD ausgeschlossen werden sollte. Jeder Zweite (50 Prozent) hält es nach der Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa für falsch, dass die Partei Sarrazin nicht mehr als Mitglied dulden will. 34 Prozent sagen, es sei richtig, dass die Partei ihn loswerden will.

Auch in der Anhängerschaft der SPD überwiegen die Ausschluss-Gegner: 50 Prozent der SPD-Wähler sind der Umfrage zufolge gegen einen Parteiausschluss des einstigen Berliner Finanzsenators, nur 43 Prozent befürworten ihn.

Donnerstag, 09.09.

Sarrazin tritt zurück. Dieser habe um seine Entlassung gebeten und werde mit Blick auf die öffentliche Diskussion seine Zusammenarbeit mit der Bundesbank zum Monatsende beenden, teilen die Frankfurter mit. Die Trennung erfolge einvernehmlich.

Hinter den Kulissen dürfte hart um diesen Rücktritt gefeilscht worden sein: Sarrazin selbst betont: "Der Bundesbank-Vorstand hält die gegen mich erhobenen Anwürfe, ich hätte mich gegenüber Ausländern diskriminierend geäußert und Ähnliches nicht aufrecht, sondern zieht sie zurück."

Für ihn sei die jüngste Zeit nicht einfach gewesen. Er habe ein wichtiges Sachthema aufgegriffen, aber "die Diskussion hält auf Dauer keiner durch". Jetzt könnten die Leute nicht mehr sagen: "Der Bundesbank-Vorstand hat gesagt...", sondern "Sarrazin hat gesagt..." Damit könne er leben.

Freitag, 10.09.

Die Bundesregierung reagiert erleichtert auf den Rückzug von Sarrazin. Es sei gut, dass es eine einvernehmliche Regelung gebe und die Bundesbank wieder in Ruhe "an ihren wichtigen Aufgaben arbeiten kann", sagt Regierungssprecher Steffen Seibert. Auf die Entscheidung habe die Bundesregierung keinen Einfluss genommen.

Eine Abfindung soll es für Sarrazin angeblich nicht geben.

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