Börse:Mein Leben als Spekulant

Wie es ist, à la Jérôme Kerviel jeden Tag mit vollem Risiko an der Börse zu jonglieren - mit weniger Geld, aber genauso viel Euphorie und Panik.

Philipp Mattheis

Ich war ein kleiner Fisch. Ich war kein Profi, wie sie in den Großbanken sitzen und per Mausklick hunderttausende von Euros herum schieben. Oder im Fall Jérôme Kerviel auch mal fünf Milliarden Euro verzocken. Wenn es eine Hierarchie unter den täglichen Spekulanten gibt, so war ich auf der untersten Stufe. Ich schob hunderte von Euros herum. Ich schaffte es trotzdem, innerhalb einer Stunde mehrere tausend Euro in den Sand zu setzen. Es geht ganz leicht.

Börse: Mein Leben als Spekulant: "Verkauft man die Position mit Gewinn, bekommt man eine Ahnung, was Größenwahn bedeutet: Euphorie plus eine Stimme, die einem leise einflüstert: Du hast es raus."

Mein Leben als Spekulant: "Verkauft man die Position mit Gewinn, bekommt man eine Ahnung, was Größenwahn bedeutet: Euphorie plus eine Stimme, die einem leise einflüstert: Du hast es raus."

(Foto: Symbolfoto: ap)

1. Alte und neue Blasen

Das tägliche Spekulieren auf eigene Rechnung, im Fachjargon Daytrading, ist kein Phänomen der Dotcom-Blase. Im Gegenteil: Die Szene wuchs nach dem Platzen der Blase an den Aktienmärkten 2000/2001 erst richtig an. Damals wurde Daytrading auch für Privatanleger möglich, dank schneller Internetverbindungen, Online-Broker und Finanzinstrumente, die nur wenig Kapitaleinsatz erfordern. Die meisten Daytrader hatten natürlich zur Zeit des Neuen Marktes Blut geleckt. Denn: Daytrading macht süchtig. Es ist nicht eins zu eins mit Spielsucht vergleichbar, aber es gibt zahlreiche Parallelen.

2. Amateure sind wie Profis

Die auflagenstärkste Zeitschrift für Daytrader, Traders', hat in Deutschland eine Auflage von 20000 Exemplaren. Ungefähr so hoch dürfte auch die Zahl aktiver Trader sein. Sie bleibt konstant. Einige kehren dem Gezocke irgendwann enttäuscht den Rücken, dafür kommen mindestens genauso viele Neue dazu. Manche von ihnen sind ehemalige Händler von Großbanken, die zuvor - wie Jérôme Kerviel oder der Engländer Nick Leeson - Absicherungsgeschäfte betrieben und es nun auf eigene Faust versuchen wollen. Die Arbeit eines Daytraders unterscheidet sich nur gering von der eines Profis wie Kerviel. Beide müssen innerhalb von Sekunden auf kleinste Bewegungen des Marktes reagieren, beide hantieren mit teilweise riesigen Summen und beide sind einem enormen Maß an Stress ausgesetzt. Nur arbeiten Daytrader auf eigene Rechnung.

Im nächsten Abschnitt: Die beiden größten Feinde des Daytraders.

Mein Leben als Spekulant

3. Ein Guru mit langen Haaren

Ich war Student und kellnerte in einer Bar, als ich dort kurz nach dem 11. September 2001 einen Daytrader kennen lernte, der mein Mentor werden sollte. Er hatte schütteres, langes Haar. Er hatte sieben Weißbier getrunken. Er schwärmte vom Zocken. Es klang nach einer Möglichkeit, ohne großen Aufwand viel zu verdienen. Er gab sich geheimnisvoll. Widerwillig war er schließlich bereit, mir alles beizubringen, was ich wissen musste. Ein halbes Jahr später war ich soweit. Ich hatte 20 Bücher gelesen: Ich wusste jetzt, was es mit Widerständen und Unterstützungen bei Aktienkursen auf sich hat, was ein Candlestick-Chart ist und was ein MACD-Indikator (siehe Kasten). Ich wusste, wie die Terminmärkte funktionieren und wie stark die Transaktionsgebühren der Broker die Gewinne schmälern. Ich wusste, dass man sich sklavisch an ein einmal entwickeltes System zu halten hat. Und was die größten Feinde des Daytraders sind: Angst und Gier.

4. Der erste Deal

Ich handelte den Deutschen Aktienindex Dax, stand um acht Uhr morgens auf, warf einen Blick auf die Performance der amerikanischen und japanischen Märkte und spekulierte ab zehn Uhr. Ein Knockout-Produkt bildet kleinste Bewegungen des Dax ab: Steigt der Dax um einen Punkt, legt das Knockout-Papier um einen Cent zu. Unterschreitet der Schein allerdings eine bestimmte Schwelle, verfällt das eingesetzte Kapital wertlos. Der Trader wird ausgeknockt. Die Milliarden-Spekulation von Jérôme Kerviel funktionierte ganz ähnlich. Nur handelte er mit Futures, so dass sein Risiko noch größer war und er sogar ein Vielfaches mehr verlieren konnte als den Kapitaleinsatz.

Bei meinem ersten Geschäft ("Trade") stand der Dax bei 3050 Punkten. Bei einem Dax-Stand von 3100 Punkten winkte ein Gewinn von hundert Prozent. Ich kaufte 1000 Stück zu einem Kurs von 45 Cent, macht 450 Euro. Das war um 10.23 Uhr. Um 11.55 Uhr verkaufte ich den Schein für 83 Cent. Ich war abzüglich der Transaktionsgebühren um 360 Euro reicher. Für diesen Tag machte ich Feierabend. Ich aß eine Kleinigkeit und legte mich schlafen. Die 91 Minuten zwischen Kauf zum Verkauf hatten mich erschlagen.

Im nächsten Abschnitt: Was ein Daytrader fühlt.

Mein Leben als Spekulant

5. Die innere Stimme

Daytrading ist wie Boxen. Den gesamten Kampf über ist der Körper mit Adrenalin voll gepumpt, der Blick fokussiert, alles andere ausgeblendet. Auf einem Monitor flimmern die Kurse, auf dem anderen wartet die Ordermaske auf Eingaben, nebenbei läuft der Fernseher. Verkauft man die Position mit Gewinn, bekommt man eine Ahnung, was Größenwahn bedeutet: Euphorie plus eine Stimme, die einem leise einflüstert: Du hast es raus. Mit jedem zusätzlichen Gewinn schwillt dieses Flüstern zu einem Kampfgeschrei an. Man fühlt sich unbesiegbar. Ein Verlust bringt neben finanziellen Einbußen Selbstzweifel, Niedergeschlagenheit, Depression. Als ich fünf Mal hintereinander verloren hatte, kam ich mir dumm vor. Wertlos. Wie ein totaler Versager.

6. Spielball der Gefühle

Daytrading bringt einen an die eigenen Grenzen. Man beginnt sich selbst zu überraschen - im positiven wie im negativen Sinn. In fast allen Ratgebern zum Thema findet sich der Begriff "Selbstdisziplin". Das liegt daran, dass sich Trader ihrer eigenen Gefühle bewusst werden müssen, sonst sind sie dem Untergang geweiht. Daytrader handeln gewöhnlich ein System. Das heißt: die grafische Analyse der Börsenkurse über einen längeren Zeitraum (Charts) liefert ihnen klare Signale, wann sie ein Produkt kaufen und wann sie es wieder verkaufen sollen. Die Experten streiten seit Jahrzehnten, ob diese Chartanalyse tatsächlich funktioniert oder Scharlatanerie ist. Egal. Viele Trader geben eine Menge Geld für Handelssignale von Websites aus, weil sie sich an etwas halten wollen. Wer sich nicht an solche Signale hält oder sein eigenes System entwickelt, wird völlig zum Spielball seiner Gefühle.

7. Hoffen ist verboten

Wichtig ist auch das Setzen von Stopp-Loss-Kursen (SL). Man setzt den SL unter den Kaufkurs, bei einem Kaufkurs von 3050 Dax-Punkten also zum Beispiel bei 3040. Fällt der Dax entgegen der Erwartung, verkauft man das Produkt sofort. Das ist unschön, weil man Geld verliert, bewahrt aber vor größeren Verlusten. Es ist ein bisschen wie Odysseus bei den Sirenen. Er weiß um seine eigenen Schwächen und lässt sich deshalb an den Mast binden, um trotzdem dem Gesang zu lauschen. Kerviel muss diese Regel missachtet haben. Kein Daytrader, der Kontrolle über sich und sein Tun hat, lässt seine Verluste so hoch werden. Denn: Rutscht eine Position - ohne SL - einmal ins Minus, beginnt das Hoffen. Das Hoffen aber macht jeden Händler zum Spieler. Während der Verlust größer und größer wird, redet sich der Spieler ein: Das wird schon wieder. In Kerviels Fall war das besonders fatal, da er mit Derivaten spekulierte, bei denen der Verlust theoretisch unbegrenzt ist - also weit höher als das eingesetzte Kapital.

Im letzten Abschnitt lesen Sie, wie der Ausstieg gelingt.

Mein Leben als Spekulant

8. Daytrader haben keine Freunde

Ich konnte zwar nicht mehr als meinen Einsatz verlieren, den dafür aber innerhalb von Minuten. Die ersten Wochen als Daytrader waren unglaublich aufregend. Jede Form von Langeweile verschwindet aus dem eigenen Leben. Alle Gedanken kreisen um die Märkte. Während der Handelszeit ist der Köper voll gepumpt mit Adrenalin. Doch mit der Zeit wird die Aufregung zum Stress. Am Ende schlief ich nur noch sechs Stunden täglich. Nachts wollte ich die amerikanischen Märkte nicht aus den Augen verlieren, morgens musste ich wissen, wie sich die Bewegungen des japanischen Nikkei auf den deutschen Markt auswirken.

Keine Ehefrau kann die Begeisterung eines Daytraders nachvollziehen, wenn er schreit: "Schatz, der Dax ist gerade um 27 Punkte gefallen!" Kein Freund versteht am Abend beim Bier noch den Satz "Bei 6100 hat es meinen Schein ausgeknockt." Daytrader werden nur von Daytradern verstanden, aber Daytrader haben keine Kollegen. Sie sitzen täglich alleine daheim vor ihrem Computer.

Wer dreimal hintereinander in wenigen Minuten mehr gewonnen hat, als er in einem geregelten Job am Tag verdient, der wird abhängig. Er wird dieses Erfolgserlebnis immer wieder haben wollen, auch wenn er längst mehrere tausend Euro verloren hat. Dazu wird in vielen Trading-Büchern suggeriert, man müsse es nur immer wieder versuchen.

9. Helden auf Zeit

Vor einigen Jahren tauchte in einem Internetforum ein Händler namens "Intuitivtrader" auf. Er behauptete, kein System zu besitzen, sondern nur nach Intuition zu handeln. Alle seine Transaktionen veröffentlichte er live und nachvollziehbar im Forum. Er begann mit 10.000 Euro. Eine Woche später besaß er 20.000 Euro. In der darauf folgenden Woche wiederholte er das Experiment. Wieder begann er mit 10.000 Euro, wieder besaß er am Ende 20.000. Mittlerweile hatte sich sein Erfolg herumgesprochen und zahlreiche Forumsteilnehmer handelten nur nachdem, was Intuitivtrader ins Forum postete. Am Ende der dritten Woche hatte Intuitivtrader alles verloren. Er verlor auch alles in der vierten und fünften Woche. Danach hörte man nie wieder von ihm.

Jesse Livermore ist in Daytrading-Kreisen eine Legende. Er lebte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als er zu handeln begann, besaß er fünf US-Dollar. Zehn Jahre später war er einer der reichsten Männer der USA. Er verlor mehrmals sein gesamtes Vermögen und erlangte es mit waghalsigen Spekulationen wieder zurück. Bis man ihn schließlich tot auf der Toilette seines Hotelzimmers fand. Er hatte sich erschossen.

10. Der Ausstieg

Meine Daytrading-Karriere dauerte zehn Wochen. Nachdem sich in der ersten Zeit Gewinne und Verluste in etwa die Waage gehalten hatten, folgte plötzlich Gewinn auf Gewinn. Keine großen Beträge, etwa 200 bis 300 Euro, aber sie bestätigten mich in dem, was ich tat. Die kleine Stimme begann lauter zu werden und ich mit ihr unvorsichtiger. An einem Tag hatte ich morgens eine vergleichsweise wenig riskante Position eröffnet und musste dringend zu einem Seminar in die Uni. Ich verzichtete diesmal darauf, eine Stopp-Loss-Absicherung zu setzen. Als ich drei Stunden später zurückkam, lag ich 100 Euro im Minus. Ich beschloss, ein wenig zu warten - ausnahmsweise über Nacht. Am nächsten Tag belief sich das Minus auf 500 Euro.

Ich wartete und begann zu hoffen. Während ich hoffte, schwoll der Verlust weiter und weiter an. Irgendwann war er so groß geworden, dass sich ein "Jetzt-ist-es-auch-schon-egal"-Gefühl einstellte. Fünf Tage später wurde der Schein ausgeknockt. Bei einem einzigen Trade hatte ich meine gesamten Gewinne der letzten Woche verloren. Und mein gesamtes Kapital. Zusammen 3000 Euro. Das war alles, was ich damals überhaupt besaß. Jetzt hatte ich genug.

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