Berlin:Grenzwerte

Berlin: Die East Side Gallery, das längste noch erhaltene Teilstück der Berliner Mauer, wurde 1990 von 118 Künstlern aus 21 Ländern bemalt.

Die East Side Gallery, das längste noch erhaltene Teilstück der Berliner Mauer, wurde 1990 von 118 Künstlern aus 21 Ländern bemalt.

(Foto: John MacDougall)

Wo die Mauer einst zwei Welten teilte, ist heute nur noch an wenigen Stellen erkennbar. Quartiere im ehemaligen Niemandsland geben der Stadt ein neues Gesicht - und sorgen noch immer für Debatten.

Von Lars Klaaßen

Auf einer dreieckigen Verkehrsinsel am Bethaniendamm, direkt hinter der Thomaskirche am Mariannenplatz, steht das sogenannte Baumhaus, ein windschiefer Sonderling zwischen deutlich größeren Stadthäusern. Dieses kleine, zweigeschossige Gebäude mit Garten drumherum wird auch "Guerilla-Garten" oder "Gecekondu von Kreuzberg" genannt. Das türkische Wort bezeichnet eine nicht genehmigte Siedlung. Übersetzt bedeutet es so viel wie "nachts hingestellt". Entstanden ist das Haus nicht im Dunkeln, sondern in einem toten Winkel der deutschen Geschichte. Die Verkehrsinsel gehörte zum Berliner Bezirk Mitte, lag also bis 1990 auf DDR-Territorium. Die Grenze zwischen Osten und Westen machte an dieser Stelle einen Bogen, aus der das Dreieck herausragte. Deshalb schloss die Mauer das etwa 350 Quadratmeter große Areal nicht mit ein, es war von der Kreuzberger Seite aus frei zugänglich.

1983 entrümpelte Osman Kalin die Brache, baute dort Gemüse an und errichtete im Schatten der Mauer zunächst eine eingeschossige Hütte. Der türkische Einwanderer war damit der erste Bauherr, der sich ein Grundstück auf dem Grenzstreifen im Berliner Zentrum sicherte, seinerzeit noch von der DDR geduldet. Nachdem die Mauer gefallen war, wollte der Bezirk Mitte gegen die "illegale Nutzung" vorgehen, doch Kalin setzte sich dagegen erfolgreich zur Wehr. 2014 begradigten die beiden Berliner Bezirke ihre Grenze an dieser Stelle, sodass der Kleingarten seitdem zu Kreuzberg gehört.

10 315 Tage hat die Berliner Mauer zwei Welten getrennt, seit dem 5. Februar ist sie länger weg, als sie existiert hat. Osman Kalin ist in diesem Jahr gestorben, sein Baumhaus steht noch. Dass die Grenze hier einst mitten durch Berlin verlief, lässt sich auf den ersten Blick nicht erkennen, an den meisten Stellen im Stadtbild ebenso wenig. Der verhasste "antiimperialistische Schutzwall" ist kurz nach der Wende schnell abgerissen worden - die Narbe wucherte an vielen Stellen zu. Dass der Abriss nicht überall gründlich und systematisch vonstattengegangen ist, zeigt sich immer dann, wenn irgendwo zufällig ein Stück Mauer gefunden wird, das dort niemand mehr vermutet hatte. Im August etwa tauchte in der Nähe der neuen Zentrale des Bundesnachrichtendienstes ein etwa 20 Meter langes Betonstück mit Lampenhaltern wieder auf. Eine Gruppe interessierter Bürger war dort mit Bezirksstadtrat Ephraim Gothe gemeinsam über eine Brache spaziert, unter dem Motto "Grüne Wege in die Mitte".

Die Mauer rund um Westberlin war etwa 156 Kilometer lang, knapp 44 Kilometer davon trennten die beiden Stadthälften. Die Grenzanlagen sind zwischen 1961 und 1989 immer weiter ausgebaut und modernisiert worden. In den 80er-Jahren standen an der Westseite 3,60 Meter hohe Betonteile. Dahinter befand sich der Todesstreifen, an schmalen Stellen nur 30 Meter breit, dort wo mehr Platz war, bis zu 500 Meter, etwa am Potsdamer Platz. Einen Eindruck von der gigantischen Brache, die sich dort jahrzehntelang mitten in der Millionenstadt befunden hatte, bekommt man in Wim Wenders Film "Der Himmel über Berlin", in dem der blinde "Homer" über die Einöde zieht und im Selbstgespräch den vergangenen urbanen Trubel rekapituliert.

Der Trubel kam zurück. Auf der "größten Baustelle Europas", so der Slogan, haben Mercedes, Sony und noch ein paar weitere Bauherren ein komplettes Quartier aus dem Boden gestampft, das mit dem alten Potsdamer Platz allerdings so gut wie nichts mehr zu tun hat. Selbst der Straßengrundriss ist heute ein anderer. Ein kleines Stück Mauer steht noch am Originalplatz auf dem Gehweg, ein Band im Boden zeichnet, wie durch ganz Berlin, den Verlauf der Mauer nach. Außer diesen musealen Spuren ist an der ehemaligen Grenze zweier Welten fast alles neu. Hier hat der Berliner Bauboom in den 90er-Jahren im großen Stil begonnen, Platz war zur Genüge vorhanden.

Eines der letzten größeren Mauergrundstücke, die im Berliner Zentrum verkauft wurden, befindet sich an der Grenze von Mitte und Kreuzberg, unweit des ehemaligen Grenzübergangs Heinrich-Heine-Straße. Das Areal ging 2015 an die Instone Real Estate. Seit 2017 baut das Unternehmen dort unter dem Namen "Quartier Luisenpark" Häuser mit 553 Wohnungen. 414 werden zum Verkauf angeboten. 139 übernimmt die städtische Wohnungsbaugesellschaft Howoge, um sie als Sozialwohnungen zu vermieten. Dass die zentral gelegene Brache bebaut werden soll, hatte der Senat schon 1996 beschlossen, der Bebauungsplan ist dann 2008 noch einmal überarbeitet worden. Vor Baubeginn ist untersucht worden, ob sich noch historische Spuren auf dem Areal befinden. Bislang unbekannte Fluchttunnel oder Ähnliches wurden nicht gefunden. Der Postenweg am Rande des Grundstücks bleibt erhalten. Hier führt der Berliner Mauerweg entlang. Wo, wie hier, direkt auf dem Grenzstreifen neu gebaut wird, zeigt sich eine Umkehrung im Ost-West-Verhältnis. Zwischen 1956 und 1963 ist in Kreuzberg die Otto-Suhr-Siedlung mit 2300 Wohnungen genau an dieser Stelle auch als Zeichen in Richtung Mitte gebaut worden: für die Leistungsfähigkeit des Westens beim Wiederaufbau. Nun hingegen werden direkt gegenüber auf der Ostseite die Neubauten des Quartiers Luisenpark mit "sehr hoher Wertigkeit", "Raffinesse und Kreativität" beworben.

Was am legendären Checkpoint Charlie gebaut werden soll, ist unklar - ein Hard-Rock-Hotel?

Wo noch Mauerteile stehen, wird ebenfalls gebaut - und deshalb über ihren Erhalt gestritten. Das längste noch erhaltene Teilstück, gute 1300 Meter Hinterlandmauer, steht an der Spree zwischen Ostbahnhof und Oberbaumbrücke: die East Side Gallery, im Frühjahr 1990 von 118 Künstlern aus 21 Ländern bemalt. Das Areal ist Teil der "Media Spree", eines Stadtentwicklungsgebiets an beiden Flussufern von Mitte Richtung Osten. Der Wohnturm "Living Level" erhebt sich dort mit 14 Etagen direkt auf dem ehemaligen Sperrgebiet zwischen der bemalten Hinterlandmauer und der Spree, wo seinerzeit die Staatsgrenze verlief. Ein Stück Mauer wurde aus der East Side Gallery herausgeschnitten, um Zugang zum Hochhaus zu schaffen. Das rief 2013 Tausende Demonstranten auf den Plan - und David Haselhoff. Der hatte 1989 in Berlin mit "Looking For Freedom" den Mauerfall besungen. Nun lautete die Parole: "Die Mauer muss bleiben!"

Am legendären Checkpoint Charlie steht schon lange keine Mauer mehr. Nur der Nachbau des US-amerikanischen Kontrollhäuschens erinnert noch an den Grenzübergang - ein paar als Soldaten Verkleidete, die für Touristenfotos posieren, inklusive. Schon seit Jahren wird erregt debattiert, was auf der 3000 Quadratmeter großen Freifläche gebaut werden soll, was dem Ort angemessen wäre. Eine Reihe von Entwürfen, die bei einem Ideenwettbewerb eingereicht wurden, sind mittlerweile wieder vom Tisch, ebenso Pläne für ein Hochhaus. Ein Hard-Rock-Hotel hingegen könnte noch Chancen auf Realisierung haben. Wie es aussieht, wenn man sich so gar keine Gedanken über die Gestaltung eines historischen Stadtraums macht, verdeutlicht die Zimmerstraße, die am Checkpoint Charlie kreuzt. Wo hier einmal die Mauer stand, markiert lediglich das steinerne Band dezent im Asphalt. Ansonsten stehen rechts und links eintönige Geschäftshäuser.

Wenige 100 Meter weiter nach Westen bricht dann aber wieder Historisches durch. Hinter einem Stück schon schwer mitgenommener Mauer, die hinter einem Zaun geschützt wird, befindet sich die Dauerausstellung "Topografie des Terrors": Dort befanden sich das Hauptquartier der Geheimen Staatspolizei, die Zentrale des Sicherheitsdienstes der SS und das Reichssicherheitshauptamt - das Zentrum der NS-Schreckensherrschaft, die unter anderem auch den Mauerbau zur Folge hatte.

Die Geschichte und die Schrecken der Mauer selbst sind an der Bernauer Straße Thema. Dort erstreckt sich auf 1,4 Kilometer Länge die "Gedenkstätte Berliner Mauer", der zentrale Erinnerungsort an die deutsche Teilung. Auf dem Areal der Gedenkstätte befindet sich das letzte Stück der Berliner Mauer, das in seiner Tiefenstaffelung erhalten geblieben ist und einen Eindruck vom Aufbau der Grenzanlagen zum Ende der 80er-Jahre vermittelt. Viele andere Spuren, die verschiedene Geschichten dazu erzählen, wurden wieder freigelegt.

Dazwischen und drumherum wurden auch hier viele Brachen wieder mit Neubauten geschlossen. Osman Kalin bleibt Bauherren in Berlin nach wie vor ein Vorbild.

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