Süddeutsche Zeitung

Bauruinen:Die Unvollendeten

Eine Künstlergruppe zeigt Gebäude in Italien, die nie fertiggestellt wurden. Manche können den Mahnmalen der Misswirtschaft sogar Positives abgewinnen.

Von Joachim Göres

Die Kamera folgt in schnellen Bewegungen einer Betontreppe, deren Stufen schon mit ziemlich viel Unkraut bewachsen sind. Die grau-grüne Treppe schlängelt sich immer weiter nach oben - und endet plötzlich im Nichts. Ein kleiner Ausschnitt aus einem Video, das derzeit in der Ausstellung "Incompiuto" zu sehen ist, auf Deutsch: unvollendet. Die Künstlergruppe Alterazioni Video hat sich in Italien auf die Spur von öffentlichen Bauwerken begeben, die nicht zu Ende errichtet wurden. Sie ist auf etwa 700 Bauruinen gestoßen, die vor allem in den Siebziger- und Achtzigerjahren Jahren entstanden sind. Schwimmbäder, Parkhäuser, Brücken, Sportzentren, Bahnstationen, Krankenhäuser. Das Italienische Kulturinstitut in Hamburg präsentiert erstmals in Deutschland außer dem Video rund 20 großformatige Fotoaufnahmen.

Da ist in einer grünen Landschaft ein grauer Betonklotz zu sehen, in der Mitte ein Loch, das für die Tür vorgesehen war. Wer näher an das Bild herantritt, liest in kleiner Schrift "Planetarium, Lucca". Warum in diesem Ort in der Toskana das Bauwerk nicht vollendet wurde, erfährt man nicht. Immerhin gibt es im Begleitband einige weitere Informationen: Baubeginn 2005, Größe fast 6000 Kubikmeter, Kosten 1,5 Millionen Euro, die aus Mitteln des Staates aufgebracht wurden. Die Künstler haben eine Skala von eins bis zehn entwickelt, um zu kennzeichnen, wie weit der Bau fortgeschritten war. In Lucca - Stufe drei - war das Planetarium demnach noch im Anfangsstadium.

In Penne in der Region Pescara haben die Künstler die hohen Außenmauern eines Gebäudes abgelichtet. Im Inneren wurde mit den Arbeiten noch nicht angefangen, hier wächst Gras. Eigentlich sollte an diesem Ort 1985 ein Gefängnis entstehen - ob nach den investierten 1,4 Millionen Euro das Geld dafür ausgegangen oder die Zahl der Straftäter plötzlich rapide zurückgegangen ist, bleibt offen. In Lamezia Terme in Kalabrien ragt eine 700 Meter lange Seebrücke seit 1971 ins Meer hinein - die man aber nicht betreten kann, weil es keinen Aufgang zur Brücke gibt und zwischendurch auch Brückenteile fehlen.

Die abgebildeten Motive sind meist menschenleer, der Blick wird auf die nutzlos errichteten Bauwerke gerichtet, die sich die Natur langsam zurückerobert. Man kann die Bilder aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Als Anklage gegen die Verschwendung von Steuergeldern - für die 700 dokumentierten Ruinen wurden fast 7,4 Milliarden Euro ausgegeben. Als Kritik an der Verschandelung von schönen Landschaften - 2200 Hektar wurden dafür verbaut. Oder als Brechen eines Tabus - über Jahrzehnte hatte sich niemand um diese Bauten und die Hintergründe ihrer Nichtvollendung gekümmert. Auffällig ist die Häufung solcher Bauwerke im wirtschaftlich schwächeren Süditalien. Korruption, Mafia, Misswirtschaft, politische Spiele oder Planungsfehler: Die Geschichten hinter den Ruinen sind vielfältig.

Die Künstler können den unfertigen Bauten aber auch etwas Positives abgewinnen. Sie sprechen von einem eigenen italienischen Baustil und erkennen die Ruinen als "künstlerisch-kulturelles Erbe an", das ebenso wertvoll wie andere historische Sehenswürdigkeiten sei. Dahinter steckt nicht nur Ironie: In der Kleinstadt Giarre auf Sizilien, mit neun unvollendeten öffentlichen Bauten die Hauptstadt der Unvollendeten, organisierte die Künstlergruppe im halb fertigen Polo-Stadion mit den zu steilen Zuschauertribünen ein umjubeltes Turnier mit Reitern auf Steckenpferden. Die Bewohner kamen in schicker Abendgarderobe und staunten über ein Bauwerk, das sie vorher nie betreten hatten. Das Ziel: Den Menschen die Hoheit über den öffentlichen Raum zurückgeben.

Salvatore Settis spricht nicht nur wegen der vielen öffentlichen nicht vollendeten Bauwerke von einem eigenen italienischen Baustil. Der Archäologe und Kunsthistoriker sieht in seiner Heimatregion Kalabrien eine Vielzahl von Privathäusern, die innen mit Marmor ausgelegt sind, deren Fassade aber nicht verkleidet wurde, sodass sie von außen wie Rohbauten wirken. "Ging es darum, Geld zu sparen? Oder wurde entschieden, dass die Verkleidung überflüssig ist und dass es nicht wirklich etwas ausmacht, wenn etwas vergessen wird", fragt Settis im Begleitband und fügt hinzu: "Liegt es einfach an unserer Unfähigkeit, etwas zu Ende zu bringen? Ist unser Wunsch, sie so zu lassen wie sie sind, ein positiver Ausdruck für eine neue Form von Kreativität? Oder ist es eher ein Ausdruck von Faulheit und fehlender Voraussicht?"

In einer Art Tagebuch haben die Künstler von Alterazioni Video ihre Erlebnisse beschrieben, die sie beim Besuch der Ruinen hatten. In Accadia in Apulien treffen sie den Bürgermeister, der sie durch ein unvollendetes Gefängnis führt. Er vertraut ihnen an, dass er hier künftig die Disco Sing Sing errichten will. Die Künstler umarmen ihn. "Es ist das erste Mal, dass ein lokaler Verantwortlicher vor uns steht, dessen Blick über die allgemeine Entrüstung und Scham hinausgeht." Nicht in Selbstmitleid über planerische Unfähigkeit und fehlendes Geld für die Vollendung öffentlicher Bauwerke versinken, sondern sich etwas Neues ausdenken - eine Haltung, die die Künstler mit ihrem ungewöhnlichen Projekt befördern möchten.

Zu sehen ist die Ausstellung "Incompiuto" noch bis zum 20. September im Italienischen Kulturinstitut Hamburg, Hansastraße 6.

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Quelle:
SZ vom 02.11.2019
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