Süddeutsche Zeitung

Bargeld:Schein und Sein der Deutschen

Wir haben eine besondere Beziehung zum Bargeld, das hat seine Gründe. Bald aber könnten wir alles auf eine Karte setzen müssen. Eine Ehrenrettung der guten alten Klimperzeit.

Essay von Hilmar Klute

Wir leben in Zeiten, da wir uns an Verluste entweder gewöhnen oder diese Verluste in Triumphe umdeuten. Dass wir uns nicht mehr hinsetzen und lange Botschaften auf Papier schreiben müssen, die wir anschließend in einen frankierten Umschlag stecken und in den gelben Briefkasten werfen, empfinden wir zwar als kulturelle Niederlage. Aber wir haben gleich den Trost durch den Pragmatismus zur Hand: Eine Mail schreibt sich einfach schneller und ist im Handumdrehen beim Adressaten.

Die zwanzig Brockhausbände im Regal erzählen uns vom enzyklopädischen Zeitalter und vom umständlich befriedigten Bildungshunger früherer Generationen - eine schöne Geschichte, zweifellos. Aber wenn wir wissen wollen, in welchem Jahr die Euroumstellung stattfand, tippen wir der Einfachheit halber auf Wikipedia das Wort "Euroumstellung" ein und kommen - aha - im Artikel "Euro" direkt an jene Stelle, die in uns überraschenderweise eine kleine sentimentale Sequenz wachruft.

Wir stoßen auf das Stichwort "Bargeldumtausch", und plötzlich erinnern wir uns, dass wir vor sehr vielen Jahren ein sogenanntes Starter-Kit bekommen haben; eine Art monetäres Lunch-Paket für Euro-Neulinge, unsere allerersten Tastversuche mit der neuen Währung. Man hatte uns wie Kindern ein paar Münzen in eine Plastiktüte gepackt, damit wir lernen, uns mit dem neuen Wert vertraut zu machen.

12,76 Milliarden D-Mark horten die Deutschen noch. Warum nur?

Selten zuvor war der Kapitalismus so behutsam und vorschulkindgerecht auf uns eingegangen. Die neuen Euro-Münzen fühlten sich im Prinzip genauso an wie die alten D-Mark, vielleicht ein wenig griffiger, aber das konnte Einbildung sein oder einfach die Vorfreude auf das neue Tauschmittel. Es war jedenfalls Bargeld wie die deutsche Mark, es hieß nur anders. Die Währung wurde ausgetauscht, aber das Gefühl, etwas mit den Händen auszugeben, war das gleiche geblieben. Die D-Mark-Münzen blieben ja sowieso noch eine Weile als Blaupausen in unseren Köpfen, wir rechneten die Euros immer mit der D-Mark auf, denn die alte Bundesrepublik war einfach zu solide und verlässlich, als dass wir ihr das Vertrauen entziehen wollten, nur weil angeblich ein neues Finanzzeitalter angebrochen war.

Wenn die Zahlen stimmen, welche die Bundesbank dieser Tage herausgibt, dann besteht diese inzwischen heimlich gewordene Leidenschaft zur Mark ungemindert fort: Die Deutschen horten immer noch Scheine und Münzen im Wert von 12,76 Milliarden D-Mark. Was ist das? Eine Beschwörung, ein Glaubensbekenntnis, an dem man festhält, komme, was da wolle?

Der Euro ging rauf und runter, es gab Zeiten des Wildwassers, man wusste nicht, ob er gegen den Dollar, den Yen oder später gegen den Bitcoin Bestand haben, ob er die Griechenlandkrise und die Bankenkrise überleben würde. Weil der Euro eine internationale Währung war und außerdem in das Zeitalter der Kreditkarten und Euro-Karten fiel, wurde das Geld mehr und mehr zu einer Fiktion. Geld war eine Zahl auf dem Kassenbeleg - Moment mal, welchen Zettel kriegt jetzt noch mal der Kunde, welchen behält die Kassiererin? Aber es gab zum Glück die Bankautomaten, aus denen man sich das Bargeld zog. Kling flog dann der kleine Fuffi in den Coffee-to-go-Becher des Motz-Verkäufers, klong landete die Ein-Euro-Münze im Opferstock der alten Wallfahrtskirche, die zum Unesco-Welterbe gehört und längst ein eigenes Konto unterhielt. Das Bargeld war das reale Geldmittel, der Spatz in der Hand. Soll der bald wirklich einfach so abgeschossen werden?

Es gibt hübsche, wenngleich auch paranoide Argumente fürs Bargeld

Man hört jetzt aus verschiedenen Richtungen von Überlegungen, das Bargeld zumindest langfristig abzuschaffen. Zuerst soll der 500-Euro-Schein aus dem Verkehr gezogen werden, zudem könnte sich Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble vorstellen, Bargeldzahlungen auf maximal 5000 Euro zu beschränken, danach bitte nur noch Karte! Und wie immer, wenn das Ende identitätsstiftender Mittel ausgerufen wird, kommen die Instinkt-Intellektuellen aus ihren Denkhöhlen und erzählen allen, die es hören wollen, dass der Ausverkauf der deutschen Seele begonnen hat.

Einer, der mit der bewährten Verkaufsmarke "Merkt-denn-keiner-was-hier-läuft" zuverlässig in die Bestsellerlisten kommt, ist Peter Hahne, ein ehemaliger Pfarrer und Fernsehjournalist, der seit einiger Zeit den Auftrag verspürt, sein Volk vor den Gutmenschen und Werteverkäufern zu schützen. Sein neues Buch heißt "Rettet das Bargeld". Es geht in der titelgebenden Kolumne nicht um den augenzwinkernden Rat, doch das gute alte Klimpergeld nicht zu verachten, weil der Bettler auf dem Gehsteig ja keine Kartenlesemaschine hat. Nein, bei Hahne ist mit dem Schicksal des Bargelds direkt die Frage nach dem Fortbestand unserer freiheitlichen Grundordnung verknüpft: "Und was ist das für eine Demokratie, die einem die freie Wahl zwischen bar und Kreditkarte nimmt und einem das bargeldlose Verfahren alternativlos aufzwingt?" Genau: Wenn wir nicht mehr die Scheine auf den Tisch legen können, werden wir eines Tages nicht mehr frei wählen dürfen.

Dabei gibt es doch viel hübschere, wenngleich gelegentlich auch hübsch paranoide Argumente dafür, das Bargeld nicht abzuschaffen. Wenn wir im Supermarkt mit Schein und Münze zahlen, werden unsere Daten nicht gespeichert. Und vor dem unkontrollierten Zugriff auf unsere Daten haben wir Twitter- und Facebook-Follower ja lustigerweise die allergrößte Angst. Weil wir glauben, dass finstere Weltkonzernmächte nichts anderes zu tun haben, als nach jeder mit EC-Karte bezahlten Bionade unser Profil zu bearbeiten. Umgekehrt muss kein Wirt fürchten, dass die Rechnung für den gemischten Vorspeisenteller unbeglichen bleibt, wenn er, wie viele Gastronomen es mittlerweile tun, keine Kredit- und Euro-Karten akzeptiert.

Vor allem aber ist uns das Bargeld so lieb und teuer, weil wir seinen Weg direkt und analog verfolgen können. Auf die Theke geknallt, in die Hand des Autoverkäufers geknüllt, in den Spielautomaten geworfen und in den Fahrkartenspender gepresst, dient uns das Bargeld als sinnlicher Beleg für den Wert einer Dienstleistung. Mit Münzen und Scheinen haben wir als Kinder auf sehr bildliche Weise gelernt, wie man die Kohle zusammenhält.

Das Bargeld hat uns immer auch Werte vermittelt, die jenseits des Monetären lagen. Vom Bargeld gingen in der alten Bundesrepublik wichtige ikonografische Signale aus. Wir erinnern uns: Auf den Geldscheinen blickten uns Menschen an, denen wir wenn schon nicht Verehrung, so doch Respekt entgegenbrachten. Von manchen wussten wir ungefähr, was sie geleistet haben, andere hatten wir sogar in der Schule durchgenommen.

Auf dem Zwanzigmarkschein ließ sich Annette von Droste-Hülshoff mit ihren Ringellöckchen bewundern. Bettina von Arnim fand sich auf dem Fünfer abgebildet, Clara Schumann war hundert Mark wert, vom 500er-Schein sah uns der Mathematiker Carl Friedrich Gauß an. Ehrbare und leistungsstarke Leute, allerdings: keine grandios überhöhten Gestalten.

Es gab keinen Schein mit Goethe, keinen mit Schiller, keinen mit Marx, Gott bewahre, auch keinen mit Luther - die missbräuchliche Verehrung von Kulturgrößen hatte im Dritten Reich eine große Rolle gespielt, in der Bundesrepublik wollte man es deshalb eine Nummer kleiner. Lieber die volkserzieherischen Brüder Grimm auf dem Tausender, besser den sinnenfrohen Baumeister Balthasar Neumann auf dem Fünfziger. Solide Handwerker statt gefährlicher Genies, das war die angemessene Ehrengalerie für die neue Demokratie. Viel schöner und wilder war das Papiergeld der Franzosen. Auf dem Zehn-Franc-Schein der irre Genieblick von Hector Berlioz, der den Taktstock wie ein Insekt zwischen Zeigefinger und Daumen hielt - unbezahlbar.

Der Sieg des soliden Bargelds über die Finanzströme der Weltwirtschaft

Dann die Münzen - anhand ihrer konnte man sich jeden Tag zigmal vergewissern, wer diesen wirtschaftlich so kraftvollen Staat aufgebaut hatte: Der Indianerschädel im Profil auf dem Zweimarkstück erinnerte uns vorm Zigarettenautomaten daran, dass der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer hieß; das wuchtige Gesicht von Ludwig Erhard sagte uns, dass wir uns dieses Gläschen Pils nur leisten konnten, weil einer ganz früh damit angefangen hat, Wirtschaft und Sozialgedanken geschickt miteinander zu verknüpfen. Und in seiner fabelhaften Ratesendung "Was bin ich?" warf Robert Lembke dem Gast, dessen Beruf das Team erraten sollte, bei jeder irrtümlichen Frage von Guido, Marianne, Annette oder Hans ein schönes Fünfmarkstück ins Porzellanschweinchen. Das war der Sieg des soliden kleinen Bargelds über die gigantischen Finanzströme der Weltwirtschaft - damals.

Wie sieht es denn heute überhaupt aus mit der Beliebtheit des Bargelds? Kürzlich wollte man in New York mit dem Bus fahren, leider ohne vorher eine Metro-Card gekauft zu haben. Der Fahrer sah das stattdessen hingehaltene Bargeld mit dem Ausdruck tiefsten Ekels an und sagte, dass er niemals Cash annehmen würde. So wie andere Leute vielleicht sagen, dass sie niemals eine gebrauchte Spritze verwenden würden. Die Teilnahme an der Busfahrt fand also unentgeltlich statt. Lieber soll der Typ schwarzfahren, als dass man sein widerliches Kleingeld in die Hand nimmt. So ist es dort. Und bei uns?

Wir müssen für alles bezahlen - egal ob cash oder mit Karte

Derzeit nutzen 93 Prozent der Deutschen Bargeld, um im Geschäft ihre Einkäufe zu bezahlen. Aber nicht viel weniger, 89 Prozent, zahlen auch mit Karte. Viele Deutsche benutzen also beide Bezahlwege. Die Finanzexperten sagen: Je mehr Bargeld im Portemonnaie der Leute steckt, desto weniger Geld liegt bei den Banken. Gäbe es dagegen kein Bargeld mehr, hätten die Banken mehr Geld, um Kredite zu vergeben. Die Geldmenge könnte dann wachsen und die Inflation steigen. Geld wäre also nur noch eine Fiktion, ähnlich wie in jenen Jahren der Weimarer Republik, an die immer wieder dann erinnert wird, wenn man vor dem entfesselten Geldmachen warnen möchte.

1922 galt als Vorinflationsjahr - die Reparationszahlungen nach dem verlorenen Weltkrieg hatten zu einem Einbruch der Konjunktur geführt, die gewaltige Geldentwertung fand zwar erst im Folgejahr statt, aber die Furcht vor ihr bestimmte bereits die Gespräche der denkenden Menschen. So auch die Unterhaltung, die ein junger Reporter mit dem damals berühmten Feuilletonisten Victor Auburtin in einem Berliner Weinkeller führte. Der Junge fragte den Älteren, ob er keine Angst vor der Inflation hätte? Auburtin verneinte und kramte aus einem Lederbeutel eine sehr alte Münze aus der Zeit des Kaisers Diokletian. "Dieses Geld", so Auburtin, "hat nie eine Inflation gemacht und könnte es überhaupt nicht. Es ist zu schön."

Natürlich behielt der Mann, historisch gesehen, nicht recht. Das Geld verfiel, die Leute verloren ihre Arbeit, mit dem Bargeld konnte man die feuchten Wände der Wohnung tapezieren. Am Ende zerbrach die Republik. Was wir Nachgeborenen daraus lernen? Nichts eigentlich. Außer dass alle Diskussionen um die Zukunft des Geldes in die Erkenntnis münden, dass man zu jeder Zeit für alles bezahlen muss. Egal ob cash, mit Kreditkarte oder per Überweisung innerhalb der nächsten zehn Tage.

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Quelle:
SZ vom 30.07.2016/sry
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