Aufschwung des Münchner Nordens:Garching - das explodierte Dorf

Das Beispiel der Universitätsstadt zeigt drastisch den Wandel und die Probleme des Münchner Umlands.

Marcel Burkhardt

Maria Weber traut ihren Augen kaum. Staunend blickt die 80-jährige Garchingerin auf ein Universitätsgebäude aus Beton, Glas und Stahl. "Mein Gott, alles verbaut", sagt sie leise und schüttelt den Kopf.

Aufschwung des Münchner Nordens: Der Atom-Forschungsreaktor der TU München in Garching.

Der Atom-Forschungsreaktor der TU München in Garching.

(Foto: Foto: dpa)

Es ist kalt, regnet. Maria Weber schließt ihren Mantel, geht einige Schritte über einen frisch geteerten Weg, stoppt plötzlich und ruft laut: "Genau hier war unser Acker, direkt am Atomei!"

Im Sommer 1957 war Maria Weber zuletzt auf diesem Stück Land - als Bauerntochter, mit Knechten und Mägden. Bei sengender Hitze lockerten sie mit Hacken den Boden, zogen mit bloßen Händen das Unkraut heraus. Nur einen Steinwurf entfernt verkleideten Arbeiter das Dach des Atomreaktors mit silbrig glänzendem Aluminium.

Maria Weber spürte bei diesem Anblick einen kaum fassbaren Zeitsprung: "Ich dachte, hier stoßen zwei Welten aneinander, die nicht zusammengehören."

Im Oktober 1957 lief die Kettenreaktion im deutschlandweit ersten Reaktor an. Damit begann das Atomzeitalter - und das ausgerechnet in Garching, dem unscheinbaren Heidedorf im Münchner Norden.

Heute gibt sich Garching stolz als "Universitätsstadt im Aufschwung". 15.000 Menschen aus mehr als 100 Ländern studieren und arbeiten an der Technischen Universität, verschaffen dem Ort Ansehen in der ganzen Welt.

Das Gewerbegebiet Hochbrück ist mit einer Fläche von 130 Hektar das größte weit und breit und wird weiter kräftig ausgebaut. Tausende Menschen verdienen hier ihr Geld. In einem wuchtigen "Business Campus", dessen Rohbau gerade aus dem Schotterboden neben der Autobahn wächst, sollen weitere 7000 Arbeitsplätze entstehen.

Garching ist ein Musterbeispiel für den immensen Aufschwung des Münchner Nordens und Nordostens. Die ländlich geprägte Region zwischen Unterschleißheim und Haar entwickelte sich innerhalb weniger Jahrzehnte zu einem Industriegürtel, den Lokalpolitiker gern "pulsierende Lebensader" oder "Wirtschaftsmotor für München" nennen.

Eine riesige Maschinerie in Flughafennähe, die immer mehr Arbeitsplätze schafft. Die Kehrseite: Einst arme Dörfer sind zu gesichtslosen Boomtowns mit gewaltigen Gewerbegebieten mutiert.

Bürger klagen über Asphaltwüsten und das ungebremste Versiegeln von Böden. Künftig soll auch noch der Transrapid über ihre Köpfe hinwegrasen. Der Aufschwung hat eine ganze Landschaft gefressen.

Garching - das explodierte Dorf

Wo Kinder einst Fußball spielten, türmen sich heute Möbelhäuser auf, Lagerhallen, Großmärkte, Frachtzentren und Industriebetriebe. Der Verkehrsinfarkt ist Alltag im Norden und Nordosten, selbst auf achtspurigen Autobahnen.

Aufschwung des Münchner Nordens: Garching von oben: Aus dem abgelegenenen Heidedorf wird die Universitätsstadt.

Garching von oben: Aus dem abgelegenenen Heidedorf wird die Universitätsstadt.

Die ganze Region ächzt.

Pendler klagen über Monsterstaus, Anwohner über Gestank und Lärm. An Garching rasen täglich 130.000 Fahrzeuge auf der A9 vorüber. Schlimmer noch: Die Autobahn zerschneidet die Stadt in zwei Teile. Anwohner blicken auf einen elf Meter hohen, unbepflanzten, grauen Lärmschutzwall, der ihre Häuser überragt.

Auf der B11 rollen jeden Tag 16.000 Autos und Laster durch den Ort, Tendenz steigend. Weil die Situation für viele Menschen unerträglich ist, gibt es seit kurzem eine millionenteure Ausweichtrasse. 10.000 Quadratmeter Wald war die Straße den Planern wert.

Dumm nur, dass sie an einem Verkehrsknotenpunkt endet - und damit im Stau.

"Welcome to the University Town of Garching". Wenn Maria Weber an den Schildern am Ortseingang vorbeifährt, muss sie stets lachen: "University Town - ha, ich sehe hier keine Stadt, nirgends. Garching ist das explodierte Dorf!" Sie sagt es ohne Wehmut. Von der poetisch besungenen "guten, alten Zeit" hält sie wenig: "Es war ganz und gar nicht romantisch."

"Is des etwa schee? - Naa!"

Als Kind musste sie in spärlichen Schürzen zur Schule, im Sommer barfuß, im Winter gab es nur Kraut und Rüben zu essen, in der kalten, klammen Schlafstube haben sie und ihre Geschwister gefroren. Der Forschungsreaktor machte die meist armen Bauern über Nacht reich. Für seine sieben Hektar Grund erhielt auch Maria Webers Vater einen gewaltigen Batzen Geld. Damit kaufte die Familie 70 Hektar Ackerland in Niederbayern. Eine ganze Reihe Garchinger Bauersfamilien hat es genauso gemacht.

Maria Weber zeigt ein altes Bild des Bauerngehöfts: "Is des etwa schee? - Naa!" Armselig sei es gewesen. Punkt. Aus. Rings um den Hof waren Wiesen, ein Acker. Davon ist nichts übrig. Das 1919 errichtete Bauernhaus wurde Anfang der siebziger Jahre abgerissen. Das Land hat die Familie verpachtet. Der Acker ist einem 200 Meter langen, fünfstöckigen Wohn- und Geschäftshaus gewichen, in dem heute 300 Menschen leben.

Aus dem matschigen Schleißheimer Weg wurde die breite, asphaltierte Schleißheimer Straße, links und rechts von ihr liegen Supermärkte, Banken, Gaststätten. Der einstige Dorfrand ist heute so etwas wie der Stadtkern.

Als Maria Weber zur Schule ging, lebten im Dorf 900 Menschen, mittlerweile sind es 16.000 - und die brauchen Platz. Die bebaute Fläche Garchings hat sich seit den fünfziger Jahren verfünffacht. Mit der Wissenschaftsstadt und dem Gewerbegebiet wuchs Garching in den sechziger Jahren gewaltig, in manchen Jahren um mehr als 1000 Neubürger. "Zu rasant, geradezu ungesund" sei das gewesen, sagt Bürgermeister Manfred Solbrig rückblickend.

Heftig und planlos

Damals aber war die Fortschrittseuphorie immens, das Alte schien wenig wert. "Wir dürfen uns dem pulsierenden Leben nicht verschließen", mahnte der damalige Bürgermeister Josef Amon seine Widersacher, die größere Stücke der alten bäuerlichen Welt bewahren wollten.

Der erste Bauboom war so heftig und planlos, dass Garching sein Gesicht verlor. "Zunächst hat jeder gemacht, was er wollte, viel Klein-Klein, man hat hier was gebastelt, da was dran geklatscht - und sich anschließend gewundert, dass nicht das Schloss von Versailles herausgekommen ist", sagt der Architekturprofessor Christoph Hackelsberger. Im Münchner Norden und Nordosten sieht er "überall große Verderbnis". Ein Geflecht aus Geldgier, Kungelei und Unvermögen sei Gift für den Wandel der Region gewesen.

In Garching ist vom Heidedorf kaum noch etwas übrig. Die Kleinstadt wirkt an vielen Stellen arg zusammengeschustert: Da stehen in Zentrumsnähe siebengeschossige Betonburgen neben halb verfallenen Scheunen, Autohäuser und Supermärkte neben Einfamilienhäusern und alten Gehöften.

Das Ganze ist ein seltsames Gebilde: Industrieort, Wohnplatz für Wissenschaftler, Beamte, Arbeiter, Heimat einiger übrig gebliebener Bauern. "Wir sind aber keine dieser anonymen Schlafstädte", sagt Bürgermeister Solbrig ganz bestimmt, die Arme vor der Brust verschränkt. Im Theater, in Schulen, Vereinen und Kirchen sei der Austausch zwischen alten und neuen Garchingern rege, beteuert er.

25.000 Quadratmeter Gewerbefläche - kein einziger vermietet

Mittlerweile gibt es auch einige positive architektonische Akzente in der Stadt. Die postmoderne Wohnhausarchitektur im Zentrum, die farbig und differenziert sein soll, beurteilt Hackelsberger aber als "zappelig, papierern und künstlich - groteskes Zeug, schauerliche Buden". Der Bürgermeister empfindet das ganz anders: "Garchings Schönheit lebt von der Vielfalt."

Zurzeit krempelt die Stadt das 40 Jahre alte Gewerbegebiet um. Ein "Logic Park" und der neue "Business-Campus" sollen Unternehmen mit Geld anlocken. Von den 25.000 Quadratmetern Gewerbefläche des Business Campus sei noch kein einziger vermietet, sagt Solbrig und zupft an seiner grünen Krawatte.

"Aber das wird schon." Die Zuversicht ist so groß, dass es Pläne gibt, den Campus binnen zehn Jahren bis auf 230.000 Quadratmeter Geschossfläche auszubauen. Solbrig spricht von einer "rasanten, positiven Entwicklung" und lehnt sich entspannt zurück: "Wo früher Kühe gegrast haben, brummt heute das Geschäft."

Wenn Einzelhändler im Zentrum über mangelnden Platz klagen, erhalten sie große Flächen Bauland am Stadtrand. An der Autobahn entsteht so demnächst ein neuer Penny-Markt und auf einer Wiese, wo heute noch Raps wächst, eine Rewe-Filiale - direkt neben Lidl.

"Das ist Wüste hier"

Leuten, die diese Baupolitik beklagen, entgegnet Solbrig: "Wir sind eben ein richtiges Kraftzentrum. Das gehört dazu." Kraftzentrum. Für Arndt Bode, Professor für Informatik und Vizepräsident der Technischen Universität, ist dieses Wort keine leere Hülse. Wenn er aus dem Fenster seines Büros blickt, sieht er die Garchinger Forschungsreaktoren, Arbeiter, Baumaschinen, Studenten. "Work in Progress", kommentiert Arndt Bode mit einem Lächeln. "Hier wächst ein richtiger Science Parc."

Derzeit arbeiten sie detaillierte Pläne aus für ein Audimax, Hotel und Kongresszentrum, für Restaurants, Geschäfte und Wohnheime für Gastwissenschaftler.

Ein wirkliches Gesellschaftsleben gedeiht aber erst spärlich auf dem Campus. Viele Studenten fremdeln noch, eilen nach dem letzten Kurs mit der U-Bahn zurück nach München - 95 Prozent der Garchinger TU-Studenten pendeln Tag für Tag hin und her. Ein Informatikstudent am neuen U-Bahnsteig spricht aus, was viele seiner Kommilitonen so oder so ähnlich denken: "Das ist noch Wüste hier draußen."

Im Garten von Maria Weber ist es derweil irritierend ruhig. Vom Feierabendverkehr auf der 50 Meter entfernten Autobahn dringt kein Geräusch herüber. Der Schutzwall schluckt jeden Lärm. Drinnen im Wohnzimmer spielt Maria Weber Mozart-Sonaten. Sie ist eine Gewinnerin des Wandels, herausgekommen aus der engen bäuerlichen Welt, lebt unabhängig und genießt das Reisen.

Mehrmals im Jahr fährt sie mit ihrer 78-jährigen Schwester Emilie nach Italien. Von einem Teil des Erlöses für den Acker am Atomei haben Maria Weber und ihr Mann Heinrich in den sechziger Jahren ein Haus am Gardasee gebaut. Olivenhaine, Sonne und duftender Oleander - wenn Maria Weber davon erzählt, sind ihre Augen voller Glanz: "Für ein Stück Land voller Gestrüpp haben wir das Paradies bekommen."

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