Süddeutsche Zeitung

Architektur und Psychologie:Planen für die Psyche

Stress oder Wohlgefühl: Räume wirken sich stark auf das Befinden aus. Welche Bedeutung Fenster haben und warum sich Menschen immer auf denselben Platz setzen, erklärt die Architekturpsychologin Tanja Vollmer.

Interview von Lars Klaassen

Welchen Einfluss die Gestaltung von Gebäuden und Räumen vor allem auf kranke Menschen hat, erforscht Tanja Vollmer. Sie studierte Psychologie und Biologie in Göttingen, forschte und lehrte an internationalen Universitäten. Sechs Jahre war sie wissenschaftliche Leiterin am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München, bis sie 2008 das Rotterdamer Entwurfs- und Studienbüro Kopvol Architecture & Psychology gründete. Mit der Veröffentlichung des Buches "Die Erkrankung des Raums" legte sie den Grundstein der modernen Architekturpsychologie. Ein Gespräch über das komplexe Wechselspiel von Raum und Psyche.

SZ: Der Berliner Zeichner und Schriftsteller Heinrich Zille hat einmal gesagt: "Man kann einen Menschen mit der Wohnung genauso erschlagen wie mit der Axt." Ihre Arbeit zielt in die Gegenrichtung, in Richtung heilende Architektur, die Stress reduziert. Das klingt so allgemein formuliert nach Wellness-Versprechen, wie sie gerade allgegenwärtig präsentiert werden.

Tanja Vollmer: Dass hinter diesen Versprechen oft nicht viel steckt, habe ich am eigenen Leib erfahren. Als ich vor etwa einem Jahr nach Berlin kam, fand ich keine passende Wohnung und lebe bis dato in Hotels. Deren Architektur schafft in den seltensten Fällen Wohlfühloasen - ausgehend vom Erschwinglichkeitsniveau eines Gastprofessors. Räume wirken sich immer auf die Menschen aus, die sich darin aufhalten. Das ist schon länger bekannt. Was das konkret bedeutet, war immer wieder ein kontroverses Thema, meist auf philosophisch-ästhetischer Ebene diskutiert. Heute können wir uns in der Architektur aber auf Erkenntnisse aus der Psychologie stützen, die eine neue Qualität haben, die exakt sind, weil empirisch auf ausreichender Datenbasis belegt.

Architektur wirkt nicht immer gleich?

Der Ausdruck von Architektur erzielt bei unterschiedlichen Menschen unterschiedliche Eindrücke. Bei jedem Einzelnen wirken bestimmte Filterprozesse. Das fängt bei Sinneswahrnehmungen an, zum Beispiel, ob jemand kurzsichtig ist oder eine Rot-Grün-Schwäche hat. Im Gehirn wiederum wird kognitiv und emotional gefiltert, da kommt die Persönlichkeit zum Tragen. Auf der dritten Ebene wirken kulturelle Faktoren und Gewöhnung. In unseren Breiten sind etwa große Fenster angesagt, die den Blick nach draußen freigeben und viel Tageslicht hineinlassen. Menschen aus südlichen Kulturen bekleben oder verhängen solche großen Fenster oft, weil ihnen Intimität im Wohnraum wichtig ist. Wer ein Haus entwirft, sollte also zunächst genau wissen, für wen er baut. Diese User Analysis aus der Designforschung wird auch in der Architektur immer wichtiger.

Kinder, Alte und Kranke spielen dabei eine besondere Rolle. Warum?

Wenn ich mich in einem weniger schönen Hotel einquartiere oder Studierende in fensterlosen Vorlesungssälen hocken, macht sich die Wirkung des Raumes in der Regel nur marginal bemerkbar. Gesunde, erwachsene Menschen zeigen sich da recht stabil. Seit wenigen Jahren wissen wir aber, dass die Wirkung bei kranken Menschen wesentlich intensiver ist, ebenso bei Kindern und älteren Menschen. Breit angelegte Studien belegen, dass die Wirkung der Umgebung auf uns stark zunimmt, je unsicherer wir sind. Krebspatienten etwa nehmen, anders als ihre gesunden Angehörigen, Enge und Überfüllung als sehr unangenehm wahr. Je weniger wir uns in und mit unserem Körper sicher fühlen, desto verletzlicher reagieren wir auf unangenehme Reize der Umgebung. Menschen haben eine stark territorial ausgeprägte Wahrnehmung. Der eigene Körper ist unser intimster Raum. Von dort aus nehmen wir die Räume um uns herum in Besitz. Das zeigt sich etwa daran, dass wir uns bei der Wahl unseres Sitzplatzes, etwa im Seminarraum, in der Regel für den entscheiden, auf dem wir schon einmal saßen.

Kann ein falsch konzipiertes Krankenhaus die Patienten also kranker machen?

Ja, so etwas kann passieren. Warten zum Beispiel stresst Menschen. Erst recht, wenn sie körperliche Beschwerden haben und dann vielleicht noch ein Ergebnis erwarten, das ihren künftigen Gesundheitszustand definiert. In solchen Situationen wünscht man sich einen Rückzugsraum, der trotz dieser unangenehmen Situation ein wenig Sicherheit und Geborgenheit vermittelt. Stattdessen sitzen Patienten meist auf irgendeinem Gang vor dem Besprechungszimmer. Diese räumliche Situation verstärkt den Stress. Dieser wiederum steigert die Beschwerden und senkt die Aufmerksamkeit für wichtige Informationen seitens des Arztes. Das wiederum steigert den Stress. Es ist ein Teufelskreis. Ein anderer Punkt: Dass Eltern bei ihren kranken Kindern in der Klinik übernachten, ist seit vielen Jahren Normalität. Dort sitzen dann aber alle beengt aufeinander, niemand hat einen Rückzugsraum. Auch das birgt Komplikationen und Stresspotenzial, wie wir aus Studien inzwischen wissen. Solche Effekte können nun im Neubau vielleicht berücksichtigt werden.

Aber wie sieht es bei einer Sanierung im Bestand aus?

In bestehenden Gebäuden müssen natürlich einige Hürden genommen und Kompromisse gefunden werden. Aber auch dort geht mehr, als viele Bedenkenträger anfangs befürchten. Wichtig ist es, alle Beteiligten an einen Tisch zu bekommen und dann die Frage zu beantworten: Was brauchen und wollen wir? Da ist Changemanagement gefragt. Für die Uni-Klinik in Freiburg zum Beispiel haben wir ein neues Raumkonzept entworfen. Allein die Vorbereitungsgespräche gingen über drei Monate. Dort gibt es nun familienzentrierte Bereiche - auf einer Fläche von rund 600 Quadratmetern! Um diesen Platz zu gewinnen, mussten alle Beteiligten zunächst benennen, auf welche - meist kleinen - Räume hier und dort verzichtet werden kann. Danach wurden die verbleibenden Räume durch eine andere Brille betrachtet, zentriert und neu modelliert. Platz im Gebäude ist in der Regel vorhanden; im Kopf muss der Platz aber meist erst geschaffen werden. Um im Bestand Neues zu schaffen, muss man sich auch mal von alten Konzepten verabschieden und der Kreativität Raum lassen - natürlich nur so weit, dass hinterher Architektur und Versorgungskonzept Hand in Hand gehen!

Sie sagen auch, dass es mit der Umstrukturierung von einzelnen Gebäuden nicht getan ist.

Mit der versorgungsintensiven Überalterung unserer Gesellschaft stehen wir vor einer großen gesellschaftspolitischen, ökonomischen und auch ethischen Herausforderung. Die Architektur wird dabei eine weitreichende Rolle spielen. Die fünf Säulen des SANKT-Modells sollten nicht nur dort, sondern in allen unseren Lebensbereichen berücksichtigt werden: Selbstbewusstsein/Selbstwert, Autonomie, Normalität, Kontrolle und AnTrieb. Bauten des Gesundheitswesens werden mit neuen Wohnformen, Wohnformen mit neuen städtebaulichen Versorgungsstrukturen und Versorgungsstrukturen mit neuen präventionsorientierten Funktionen verschmelzen. Typologien, wie wir sie bis dato kennen, werden aussterben. Erste interdisziplinäre runde Tische, sogenannte Health Labs, diskutieren diese Entwicklung bereits.

Gibt es konkrete Modelle für die Stadt der Zukunft?

In den Health Labs tragen Gesundheitspolitiker und -wissenschaftler, Architekten und Stadtplaner, Psychologen und Mediziner ihr Know-how zusammen. Wenn sich Schritt für Schritt konkretisiert, wo es hingehen soll, wird das Mitspracherecht von Nutzern, ihre Partizipation im Entwurfsprozess und die wissenschaftliche Beweisführung einer Wirkung von Architektur auf Gesundheit, an Bedeutung zunehmen. Die Bedürfnisorientierung wird die Bedarfsorientierung ablösen. Die Architekturpsychologie, mit ihrem umfassenden Verständnis der Wechselwirkungen von Mensch und gebauter Umgebung, wird als Instrument maßgeblich zur Entwicklung nachhaltiger Lösungen und Innovationen beitragen. Dem Architekten selbst wird dabei eine immer komplexer werdende Rolle zuteil - mit fundierten Kenntnissen über die Psychologie des Menschen.

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Quelle:
SZ vom 30.06.2017
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