Süddeutsche Zeitung

Architektur:Heidi-Style

Holzbalkon oder Glaskubus: In den Alpen stellt sich die Frage, welcher Stil den Einheimischen gefällt und Touristen anzieht. Für viele Gemeinden ist das eine Frage des Überlebens.

Von Jochen Bettzieche

Vielleicht fährt man in hundert Jahren zum Weißensee, weil es am See noch die ursprüngliche Hüttenlandschaft gibt", sagt Almut Knaller. Die Vizebürgermeisterin der Kärntner Gemeinde sitzt auf einem Floß, das langsam über den See gleitet, und betrachtet die Gebäude am Ufer. Große Hotelbauten und Wohnsilos stehen dort tatsächlich nicht. Bislang gelingt es Weißensee, den lokalen, alpinen Charakter beizubehalten.

Weißensees Erster Bürgermeister Gerhard Koch kennt Bausünden aus den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, aber es sind wenige: "Und so etwas passiert heute nicht mehr, wir haben als Vorgabe ein Maximum von drei Stockwerken plus Dachgeschoss." Für Hotels gelte ein Limit von 140 Betten. Das verhindert den Bau von Bettenburgen. Den Baustil vorzugeben, sei aber schwierig, räumt Koch ein, und immer wieder versuche ein Bauherr auch, eine Genehmigung einzuklagen. Aber dem Bürgermeister ist wichtig: "Die Gemeinde soll eine optische Einheit sein." Flachdächer seien beispielsweise laut Bebauungsplan untersagt. Dennoch hat ein Hotelier seine Sauna- und Wellnesslandschaft in einem Kubus am See untergebracht. Im Dorf war das Projekt umstritten, erinnert sich Koch, es sei aber noch im Rahmen des Erlaubten. "Ein moderner Glaspalast hingegen passt einfach nicht gut zu uns", sagt der Bürgermeister.

In den Alpen zu bauen, ist ein Balanceakt. So schaffen große Hotelbauten Arbeitsplätze, die die jungen Menschen in der Heimat halten können. Eine verbaute Region kommt aber bei vielen Touristen nicht an. Und dann ist da noch die Frage nach dem Stil. Soll alles traditionell bleiben, damit die Urlauber ihre klischeehafte Vorstellung der Alpen bestätigt bekommen, oder darf es auch einmal moderner sein, damit gerade die jungen Einheimischen sich mit ihrer Region identifizieren können?

Die Alpenkonvention hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Öffentlichkeit für dieses Thema zu sensibilisieren. Die Alpen sind schließlich Lebens- und Wirtschaftsraum für fast 14 Millionen Menschen und Tourismusziel für jährlich 120 Millionen Gäste. Die Alpenkonvention ist ein internationales Abkommen zwischen den Alpenländern Deutschland, Frankreich, Italien, Liechtenstein, Monaco, Österreich, Schweiz und Slowenien sowie der EU für eine nachhaltige Entwicklung und den Schutz der Alpen.

Was in eine Gemeinde gut hineinpasst, kann schon ein paar Täler weiter auf starken Widerstand stoßen. Denn in den Alpen existiert kein einheitlicher Baustil. Traditionelle Architektur trifft auf Bausünden oder auch auf "Heidi-Style-Hybrid-Almhütten", wie Markus Reiterer, Generalsekretär der Alpenkonvention, misslungene pseudoalpine Bauten bezeichnet. Er kennt jedoch auch positive Gegenbeispiele: "Es gibt eine moderne architektonische Sprache, die aus der alpenländischen Tradition kommt." Ein Anreiz dafür ist Constructive Alps, ein internationaler Preis für nachhaltiges Sanieren und Bauen in den Alpen. Dahinter stehen die Schweiz und Liechtenstein, die damit einen Beitrag zur Umsetzung der Alpenkonvention leisten wollen. Auf dem zweiten Platz im Jahr 2017: unter anderem die Bio-Schaukäserei "Kaslab'n" in Radenthein in Österreich.

"Die Labn, das ist pure traditionelle Architektur", erklärt Michael Kerschbaumer, der Geschäftsführer: "Die Labn ist in den alten Häusern hier der Zwischenraum im Erdgeschoss zwischen Stube und Lagerräumen, der steht immer offen." In der "Kaslab'n" trennt so ein Raum den Verkaufsraum von den Produktionsanlagen. Das Gebäude selbst ist ein moderner Holzbau, teilweise finanziert über Crowdfunding - die Geldgeber erhalten Käse als Rendite. "Für uns war es wichtig, ein Gebäude aus organischem Material zu errichten", sagt Kerschbaumer und zeigt auf das Holzhaus. Das Holz hat ein Genossenschaftsbetrieb aus den Nockbergen geliefert.

Ein Satteldach mit flachem Neigungswinkel sitzt obendrauf. Zwölf Grad ist hier sehr wenig, verglichen mit den umliegenden Gebäuden. Aber mit dem Begriff Bautradition kann Kerschbaumer wenig anfangen. "Traditionelle Baustile? Hier gibt es keine traditionellen Baustile, irgendwie hab ich das Gefühl, jeder will sich im Baustil verwirklichen und übertrumpfen, das Gemeinschaftliche bleibt dabei auf der Strecke! ", ruft er und macht eine ausholende Geste in die Gegend. Dort stehen in der Tat unterschiedliche Gebäudetypen, mit Walmdach, Satteldach, mit und ohne Holzverkleidung, Einfamilienhäuser, mehrstöckige Mehrparteienhäuser mit Flachdach.

Urlauber bringen Geld und Jobs. Aber Kitsch und Klischee vertreiben die jungen Menschen

Entworfen hat die "Kaslab'n" das Architekturbüro Hohengasser Wirnsberger aus Spittal. "Für uns ist wesentlich, auf den Ort und das Vorgefundene - also die Geschichte, die Traditionen, die Topografie, die Typologie und vor allem auf den Menschen - angemessen zu reagieren und mit der vorhandenen Bautradition in den Dialog zu treten", sagt Architektin Sonja Hohengasser.

Bei der "Kaslab'n" sei dabei etwas Neues entstanden; sie leitet mögliche Besucher in den Ort hinein. Die "Kaslab'n" steht nicht in einer Flucht mit den übrigen Gebäuden, sondern leicht schräg zur Hauptverkehrsstraße, die am Ort vorbeiführt. Kerschbaumer ist sich sicher: "Die Gemeinde hat dadurch eine neue Einfahrt gewonnen, die Besucher hereinzieht, die sonst vorbeigefahren wären." Besucher sind wichtig, denn sie bringen Geld und damit Arbeitsplätze in Gemeinden.

Das Dorf Corippo am Westhang des Verzascatals im Tessin hat gerade noch zwölf Einwohner, davon einen im erwerbsfähigen Alter. Eine Stiftung will jetzt Häuser im Dorf renovieren und ein Hotel daraus machen. Dahinter steckt die Hoffnung, das Konzept des "Albergo Diffuso" könne verhindern, dass das Dorf ausstirbt.

Dass die Renovierung und der Erhalt traditioneller Architektur kein Selbstläufer ist, um Bergdörfer vor dem Aussterben zu bewahren, zeigt das Beispiel Dordolla nahe der Grenze zu Österreich und Slowenien in Italien. Knapp 40 Einwohner leben hier noch. Vor 13 Jahren kam der Österreicher Kaspar Nickles hierher und eröffnete seinen Agriturismo "Tiere Viere", einen Biobauernhof mit Übernachtungsmöglichkeit. Er hoffte, damit auch dem Abwanderungstrend im Dorf Einhalt zu gebieten. Im Ortskern selbst wurden im Laufe der Jahre durchaus Gebäude renoviert und der traditionelle Baustil beibehalten. Doch viele sind Wochenendhäuser. Der einzige weitere relevante Gewerbebetrieb ist die Bar, das soziale Zentrum. Eigentlich ist es Idylle pur, doch neue Anwohner bleiben bisher bis auf ein junges, englisches Künstlerpärchen aus. Nickles hofft, dass sich das irgendwann ändern wird.

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Quelle:
SZ vom 31.08.2018
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