Architektur:Durchspaziert

Das Berliner Zimmer ist eine skurrile Besonderheit preußischer Architektur. Lange war es verpönt, doch nun hält es wieder im Neubau Einzug - im Luxussegment. Das hat seine Gründe.

Von Lars Klaaßen

Was kann man machen mit dem Zimmer? "Als wir eingezogen sind, stand es zunächst eine Weile leer. Später war es Ess- und Wohnzimmer, mit den Kindern wurde es zum Zentrum der Wohnung", sagt Jan Herres. So habe die "persönliche Konfrontation" den Anstoß gegeben, dieses Unikum der Wohnungsarchitektur wissenschaftlich unter die Lupe zu nehmen. Seine Masterarbeit über das Berliner Zimmer ist in diesem Jahr vom Verein für die Geschichte Berlins mit dem Wissenschaftspreis 2019 ausgezeichnet worden.

Der Raumtypus, den Herres untersucht hat, findet sich dort, wo in einem Altbau das Vorderhaus oder das an der Rückseite des Hofes liegende Quergebäude mit dem Seitenflügel zusammenstößt. Es ist ein Durchgangszimmer, hat ein Fenster zum Hof und in der Regel drei Türen. Zwei Türen führen in den vorderen Teil, wo die herrschaftliche Familie lebte: eine in den Flur, die andere direkt in einen der Repräsentationsräume. Die dritte Tür führt nach hinten in den Seitenflügel, wo im 19. Jahrhundert üblicherweise das Personal untergebracht war, samt Küche und Wirtschaftsräumen. Einst war das Berliner Zimmer also die Schnittstelle zwischen zwei Welten innerhalb einer Wohnung.

Berliner Zimmer

Groß, aber eine Herausforderung beim Einrichten: Das "Berliner Zimmer" wird von jedem Bewohner etwas anders genutzt - hier zum Beispiel als Büchersaal.

(Foto: Jan Herres)

Bis heute sind diese Zimmer in der Regel recht groß, 30 Quadratmeter und mehr kommen da schon mal zusammen. Weil das Fenster sich, aufgrund der Eckposition im Haus, am Ende einer der Längswände oder in einer vorspringenden Nische befindet, sind die Räume in Teilen ziemlich dunkel. Neben den Lichtverhältnissen ist bei der Einrichtung auch noch zu bedenken, welche Wege zwischen den drei Türen frei bleiben sollen. Von der Entstehung der ersten Berliner Zimmer Mitte des 18. Jahrhunderts bis heute ist dieses architektonische Scharnier undefiniert, sind die Möglichkeiten seiner Nutzung völlig offen.

"Als die heutigen Altbauten entworfen worden sind, war die Funktion für jedes Zimmer vorbestimmt", sagt Herres. "In den Plänen waren der Salon, das Speisezimmer, die Wohnstube, die Bibliothek oder das Herrenzimmer verzeichnet - lediglich der damals bereits gebräuchliche Begriff 'Berliner Zimmer' sagt nichts über Sinn und Zweck dieses Raums aus." Diese Unbestimmtheit habe sich erhalten.

31 Haushalte gewährten dem Bauhistoriker Zutritt zu ihren Wohnungen und damit zu ihren Berliner Zimmern: "Die Vielfalt der Nutzung ist frappant." Unabhängig von Beruf und sozialer Zugehörigkeit der Haushaltsmitglieder werde der Raum mal als Wohnzimmer, mal als Esszimmer oder Arbeitsraum, mal als Bibliothek, Schlafzimmer, Kinderzimmer oder Gemeinschaftsraum und zunehmend als repräsentative Küche genutzt. "Letzteres allerdings wäre im 19. Jahrhundert undenkbar gewesen, da die Küche und der dazugehörige Essensgeruch möglichst weit in den Wirtschaftstrakt des Seitenflügels verbannt waren."

Berliner Zimmer

Küche mit Klavier? Im "Berliner Zimmer" geht das.

(Foto: Jan Herres)

Die heutigen Nutzer der Berliner Zimmer befragte Herres, was sie mit diesem Raum verbinden. Die Antworten fielen dabei ebenso vielfältig aus, wie die Nutzung der Räume. Unter anderem fielen Begriffe wie Dunkelheit, Durchgang, Kälte, Gemütlichkeit, kiffen, architektonische Missgeburt, einzigartig, Loch, multifunktional, typisch Berlin.

Ein fester Bestandteil des Berliner Wohnungsbaus war das Berliner Zimmer von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1925. "Alles begann damit, dass die Häuser der preußischen Hauptstadt nicht mehr mit der Giebelseite zur Straße ausgerichtet, sondern um 90 Grad gedreht wurden, sodass sie mit der Traufseite zur Straße standen", erläutert der Bauhistoriker. "Der städtische Raum wuchs und verdichtete sich in jener Zeit, die im Hinterhof befindlichen Wirtschaftsgebäude schoben sich förmlich auf das Vorderhaus zu. Ein Eckzimmer 'vermählte' schließlich den Seitenflügel mit dem Vorderhaus." Damit war das Berliner Zimmer geboren. Ein sich hartnäckig haltender Mythos lautet, dieser seltsame Raumtypus gehe auf eine Idee des Architekten Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) zurück. Doch das hat Herres mit seiner historischen Forschung in diversen Archiven widerlegt.

Die Besonderheit vieler Berliner Wohnungen wurde auch in anderen Städten der preußischen Provinzen gebaut, ist in dieser Häufung aber nur in der Hauptstadt zu finden. Zum prägenden Raumtypus wurde das Eckzimmer aufgrund der sogenannten Grundrissmusterbücher: "Mitte des 19. Jahrhunderts wurden sie herausgegeben, und die dort zu findenden Grundrisse dienten fortan buchstäblich als Schablone für den Berliner Mietwohnungsbau", erläutert Herres, der heute in der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen Projektleiter und stellvertretender Referatsleiter in der Abteilung Hochbau ist. "Mietshäuser wurden seinerzeit nicht vorrangig von Architekten entworfen, sondern von sogenannten Baumeistern mit Grundrissmusterbüchern in der Hand." Dies erkläre die massenhafte Verbreitung des Berliner Zimmers in Berlin wie in sonst keiner anderen Stadt.

Berliner Zimmer

Ein Zimmer zum Ausruhen - das funktioniert, solange keiner durch muss.

(Foto: Jan Herres)

Die großen Wohnungen wurden im Laufe der Zeit manchmal geteilt, später manchmal auch wieder zusammengelegt. Der Raumtypus ist trotz allem Wandel geblieben, bis heute.

Mit dem Bau von Berliner Zimmern war es 1925 schlagartig vorbei. Eine neu erlassene Bauordnung für die Stadt verbot die Errichtung von Hintergebäuden. Fortan wurden vor allem Zeilenbauten errichtet, die regelmäßig durch einen Korridor erschlossen werden. Damit hatte sich das Berliner Zimmer erledigt - für einige Jahrzehnte zumindest. "Ab den 1960er-Jahren rückt das eigentlich verpönte 'dunkle Loch' wieder in den Blick architekturtheoretischer Debatten", so Herres. "Ursache dafür ist, dass sich die Architekten jener Zeit wieder zunehmend mit den sozialen Elementen in der Architektur beschäftigten." Der nutzungsoffene und damit auch soziale Charakter des Berliner Zimmers rückte als bewusst genutzte Möglichkeit in den Fokus: seine verbindende Lage im Zentrum der Wohnung, die es zum Dreh- und Angelpunkt familiären Lebens machen und in WGs den Bewohnern als Treffpunkt dienen kann.

"Aneignungsoffene Räume wurden insbesondere in der strukturalistischen Architektur zum Thema", erläutert Herres. "Hierbei geriet auch das polyvalente Berliner Zimmer in den Fokus, als Gegenentwurf zu einer technisch orientierten Architekturauffassung." So habe sich Oswald Mathias Ungers (1926-2007) mit den sozialen Potenzialen des Berliner Zimmers auseinandergesetzt. Er implantierte eine Neuinterpretation dieses Raumtypus in seine von 1966 bis 1969 gebauten Wohnstrukturen für das Märkische Viertel. "Bei der Internationalen Bauausstellung 1987 tauchte das Berliner Zimmer sodann zunehmend im Kontext der 'Kritischen Rekonstruktion' wieder auf", so Herres. "Es kam zu einem regelrechten Architekturrevival dieses Raumtyps."

Nachdem es zwischenzeitlich ruhiger um das Berliner Zimmer geworden ist, reüssiert es nun wieder - im hochpreisigen Wohnungsbausegment, wie Herres beobachtet: Die Berliner Grundrisse aus dem 19. Jahrhundert würden zunehmend kopiert und somit wieder Eckdurchgangszimmer gebaut. "Vielleicht", mutmaßt er, "weil dieses Klientel ein Stück Berliner Original haben möchte."

Für künftige Wohnungsentwürfe sieht der Projektleiter Hochbau vor allem das Potenzial des Freiraums, der nicht auf eine bestimmte Nutzung festgelegt ist, sodass den Mietern überlassen bleibt, wie sie diesen Raum gestalten: Das Berliner Zimmer als Zone des Durchgangs und des Verweilens, als verbindender Raum und Pufferzone zugleich, biete Spielräume, die die heutigen Wohnstrukturen des Massenwohnungsbaus vermissen lassen. "Ich wünschte mir, dass Architekten häufiger nutzungsoffen planen, sodass die Bewohner die Wohnung nach ihren Vorstellungen 'zu Ende bauen' und in Besitz nehmen können."

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