Süddeutsche Zeitung

Arbeit und Rente:Am Ende des Jugendwahns

Die Rente mit 67 kann bleiben, denn sie kommt schrittweise; Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben genug Zeit, sich darauf einzustellen. Und: Sie raubt den Jüngeren auch nicht die Jobs.

Thomas Öchsner

Es ist eine schleichende Revolution, die in Deutschlands Büros und Fabrikhallen stattfindet: Viele Menschen sagen, dass sie gerne länger arbeiten würden, wenn sie über den Umfang und die Art ihrer Tätigkeit mehr mitbestimmen könnten. Arbeitgeber bieten für ältere Mitarbeiter sogar Gymnastikkurse an, um sie fit zu halten. Die Deutschen gehen immer später in Rente, hat das Familienministerium soeben festgestellt.

Wir lernen, so scheint es, uns langsam darauf einzustellen, dass in Zukunft viel mehr alte auf weniger junge Menschen treffen, und das Durchschnittsalter in den Betrieben steigt. Doch wenn Deutschland auch in den nächsten Jahrzehnten eine ökonomische Macht bleiben und nicht erheblich an Wohlstand verlieren soll, darf das nur der Anfang eines Umdenkens sein. Um mit dem demografischen Wandel besser leben und dem Fachkräftemangel trotzen zu können, müssen die Alten länger arbeiten, und das Land muss mehr qualifizierte Zuwanderer für sich gewinnen.

Die Zahlen des Familienministeriums künden, wohlwollend betrachtet, von Fortschritten. Das Berufsleben einer wachsenden Zahl von Menschen verlängert sich. Das Alter, in dem die Menschen in den Ruhestand gehen, hat sich zwischen 2002 und 2008 von 62 auf 63 Jahre erhöht. Der Anteil der über 60-Jährigen, die noch einen Job haben, steigt.

Es lässt sich aber auch eine andere, weniger erfreuliche Rechnung aufmachen: Viele Ältere sind auf dem Papier noch beschäftigt, an ihrem Schreibtisch oder in der Werkhalle allerdings nicht mehr anzutreffen, weil sie in der zweiten Phase ihrer Altersteilzeit nicht mehr arbeiten müssen. Hunderttausende haben nur noch einen Minijob. Nicht wenige, vor allem in den körperlich anstrengenden Berufen, waren krank, erwerbsgemindert oder arbeitslos, bevor sie den Ruhestand beantragten. So ist es nach wie vor die Ausnahme, bis 65 Jahre erwerbstätig zu sein. Der "Silberschatz des Alters", wie es Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen formuliert hat, wird viel zu selten gehoben.

Gesundheitsforscher wissen inzwischen, dass die Leistungseinbußen der Älteren nicht so stark sind, wie das oft angenommen wird. Diese sind körperlich und intellektuell durchaus in der Lage, weit über die 60 hinaus zu arbeiten. Sie mögen dabei etwas bedächtiger sein, leisten sich aber weniger Fehler. Ältere Menschen können mit Kollegen und Kunden meist besser umgehen. Ihre Erfahrung hilft ihnen, richtig zu entscheiden. Ältere und Jüngere können voneinander lernen.

Kluge Personalmanager haben längst erkannt, dass der Ertrag, den ältere Mitarbeiter erwirtschaften, höher ist als ihre Kosten. Unternehmen entwickeln Programme, wie sie die Gesundheit ihrer jungen Mitarbeiter länger erhalten statt für kürzere Zeit alles aus ihnen herauszupressen. Der Gedanke, dass ältere Mitarbeiter nicht nur Kandidaten für den Ruhestand sind, muss sich aber noch in viel mehr Betrieben durchsetzen.

Länger zu arbeiten stößt allerdings dort an Grenzen, wo die körperliche Belastung zu hoch ist. Ein Dachdecker, da hat der ehemalige SPD-Chef Kurt Beck recht, kann wohl nur selten mit 67 noch über die Dächer spazieren. Und ihn nach 30 oder 40 Jahren in ein Büro zu setzen, wird in den meisten Fällen kaum möglich sein. Bei dieser Gruppe der körperlichen Schwerarbeiter müssen Politiker und Tarifparteien neue Lösungen für einen gleitenden Übergang in die Rente finden - und zwar ohne dass es zu einem Missbrauch der Frühverrentung kommt.

Die Rente mit 67 kann dennoch bleiben. Sie kommt nicht sofort, sondern schrittweise. Bis es so weit ist, dauert es noch 20 Jahre. Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben genug Zeit, sich darauf einzustellen. Die Rente mit 67 trägt dazu bei, die Rentenfinanzen, für die Deutschland im Ausland bewundert wird, stabil zu halten. Und sie raubt den Jüngeren auch nicht die Jobs, weil in Zukunft ohnehin jeder, der etwas kann, als Arbeitskraft gefragt ist. Es ist deshalb ein historischer Fehler der Sozialdemokraten, an einer ihrer größten Reformen in der eigenen Regierungszeit herumzudoktern und deren Einführung verschieben zu wollen.

Selbst wenn es gelingt, ältere Menschen stärker in die Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts zu integrieren, wird dies jedoch nicht ausreichen, die Folgen des Geburtenrückgangs auszugleichen. Bis 2030 wird das Potential an Arbeitskräften um sechs Millionen sinken. Ein Konzept, wie diese Lücke zu schließen ist, fehlt bislang. Es muss in Zukunft weniger junge Leute geben, die ohne Schul- oder Berufsabschluss in der Langzeitarbeitslosigkeit versacken. Hier lebende Zuwanderer sind stärker zu fördern und zu fordern, damit sie bessere Chancen auf einen Job haben. Und nötig ist es auch, den Zuzug von Zuwanderern zu erleichtern und wie in Kanada nach einem Punktesystem zu steuern, mit dem sich die Bildungsabschlüsse der Immigranten bewerten lassen. Mehr qualifizierte Zuwanderer werden den Arbeitskräftemangel nicht lösen, aber lindern helfen. Die Gesellschaft altert rapide. Zuwanderer gegen einheimische Arbeitslose auszuspielen - das kann sich Deutschland genauso wenig länger leisten wie Chefs, die dem Jugendwahn huldigen.

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SZ vom 09.09.2010/mel
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