Süddeutsche Zeitung

Amsterdam:Verlassen verboten

Amsterdams alte Brückenhäuschen standen viele Jahre leer. Dann kamen Architekten auf die Idee, in den winzigen Gebäuden Touristen unterzubringen - ein ungewöhnliches Projekt, auch für die Hotelgäste.

Von Evelyn Pschak

Dream big, sleep tiny: Dieses Motto flattert, gedruckt auf schwarzem Fahnenstoff, an einem Backsteinhäuschen im Wind. Das ehemalige Brückenwärterhaus an der Nieuwe Amstelbrug, einer Brücke über den Fluss Amstel in Amsterdam, zeigt, dass man auf kleinstem Raum prima schlafen kann. Und dass man auch große Träume realisieren kann, wenn sich die richtigen Menschen finden. Im Jahr 2009 zog die Stadt Amsterdam ihre Brückenwärter ab und automatisierte die Brücken- und Schleusenöffnungen für die Schifffahrt. Zurück blieben - immer auf oder neben Brücken platziert - 28 Häuschen mit einer Grundfläche von zwölf bis 70 Quadratmetern. Zwischen 1672 und 2009 erbaut, dokumentieren sie die Baustile der Stadtarchitektur, zeugen von der klassizistisch-niederländischen Eleganz des 17. Jahrhunderts, der Detailverliebtheit im Backsteinexpressionismus der Amsterdamer Schule, dem kubisch-linearen Purismus der De-Stijl-Strömung und von der zeitgenössischen Zweckarchitektur, die mitunter an futuristische Kommandozentralen erinnert.

"Es waren eigentlich bessere Baucontainer", erinnert sich Sascha Glasl an den Zustand der verlassenen Gebäude bei der ersten Besichtigung. "Es gab eine kleine Küche, um sich Kaffee zu machen. Eine Toilette, ein Waschbecken, aber alles war veraltet", erzählt der Mitgründer des Amsterdamer Architekturbüros Space & Matter, das sämtliche Umbauten entwarf. "Die älteren Häuschen waren mal sehr schön", sagt Glasl. "Aber über die Jahre entstand eine Patina des Gebrauchs. Und drinnen fanden wir hässliche Farbe, hässliche Möbel, hässliche Vorhänge und Mief."

Trotzdem entwickelten die Architekten ihre Idee, die Häuschen in Gasträume umzuwandeln, gemeinsam mit dem auf Industrieerbe spezialisierten Immobilienentwickler Grayfield und der für ungewöhnliche Hotelprojekte bekannten Gruppe Seven New Things um die künstlerische Direktorin Suzanne Oxenaar. Die Hoteliers sind inzwischen die Mieter der städtischen Gebäude, sie tragen die Kosten der Innensanierung.

Das Vorhaben ist nicht einfach. "Der bürokratische Aufwand für dieses Projekt ist immens", sagt Igor Sancisi von Grayfield. Im Februar 2012 hatte der Zentralrat von Amsterdam dem Projekt zwar grünes Licht gegeben, erzählt der Jurist, "doch anschließend mussten wir für das Projekt 28 Baugenehmigungen in sechs verschiedenen Stadtteilen anfordern, die innerhalb ihres Gebiets auch noch unterschiedliche Flächennutzungspläne hatten".

Zunächst haben sie für das Sweets Hotel genannte Projekt viel Lob aus dem Amsterdamer Rathaus erhalten. Man sah es als gelungenes Beispiel für den Zusammenschluss von privaten und städtischen Unternehmen. Aber später war die Stadt von Touristen überschwemmt, neue Hotelvorhaben gerieten in die Kritik. Die linksgerichtete Socialistische Partij sammelte sogar Unterschriften auf Facebook, um das Projekt zu stoppen. Das gelang ihnen nicht, im Oktober 2017 wurden die ersten Zwei-Personen-Suiten eröffnet. Inzwischen sind 15 der Hotelzimmer fertig, Ende des Sommers sollen 18 bezugsfertig sein und bis 2021 dann alle Brückenhäuschen der Stadt. Es ist eine langwierige Aufgabe, die das Team Haus um Haus vor neue Anforderungen stellt. Suzanne Oxenaar: "Jedes Häuschen ist ein Original, das man nicht verfälschen darf. Damit man weiterhin versteht, was die Aufgaben des Brückenwärters darin waren: Er beobachtete das Wasser, die Schiffe, den Verkehr. So wie der Gast heute auch."

Der heutige Bewohner muss die Klappbrücken zwar nicht mehr selbst hoch- oder runterfahren. Aber für die Hotellerie außergewöhnliche Sicherheitsregeln beachten. Denn einige der Häuschen befinden sich hinter der Schranke, die den Verkehrsstrom mit Fußgängern, Radfahrern, Autos oder Trambahnen von den Brückenmanövern fernhält. So untersagen die an den Eingangstüren angeschlagenen Hotelzimmerregeln, das Häuschen während des Klappvorgangs zu verlassen. Aus Sicherheitsgründen darf man sowieso nur als Erwachsener über 21 Jahren im Hotel einchecken.

Für die reibungslose Nutzung ihres Hotels hat sich Oxenaar einiges einfallen lassen. Die Hoteltür lässt sich über eine App mit dem Smartphone öffnen. Weil es keinen Frühstückssaal gibt, wird das Hotelfrühstück auf Wunsch morgens in einem Pappkarton vor den Eingang gelegt. Eine eigene Rezeption gibt es auch nicht; wenn sich mal jemand aus Versehen ausgeschlossen hat oder ansonsten etwas passiert, wird der Hotelservice eingeschaltet. Oxenaar: "Amsterdam ist eine kleine Stadt. Und wir sind gut verteilt. Wir brauchen höchstens 15 Minuten, um vor Ort zu sein."

Alles andere am Projekt koste allerdings sehr viel Zeit. Viel mehr, als man bei Häuschen von solch kleinem Grundriss glauben möchte. "Wir dachten, wir könnten diese Unternehmung praktisch angehen und bestimmte Dinge vereinfachen. Etwa indem wir für alle Häuschen die gleichen Badezimmerkacheln besorgen. Aber damit hätten wir ihre Einzigartigkeit zerstört."

Auch Sascha Glasl betont, dass das Entwerfen kleiner Häuser nicht weniger Mühe mache als das Entwerfen großer Gebäude - "kleine Häuser sind meistens sogar eher schwieriger", sagt er. Jeden Mittwoch trifft er sich im Team mit der Hoteliergruppe, um die derzeitigen Umbauten durchzusprechen. "Man schleift an Juwelen, das muss man verstehen", meint er, das Sweets-Hotel sei nun mal eher ein Hobbyprojekt mit viel Liebe zum Detail denn ein kommerziell interessantes Unternehmen.

"Der Umbau eines jeden Hauses beginnt mit einem Design-Picknick", erklärt der Architekt. "So nennen wir die ersten Treffen zwischen Architekten, Industrieentwicklern und den Leuten vom Hotel im jeweiligen Objekt." Gerade die Expertise der Hotelfachleute sei fürs Interieur unabdingbar: "Man kann ja die tollsten Entwürfe machen, aber letztendlich geht es um Sicherheit und darum, wie man ein Zimmer am leichtesten sauber bekommt, um Komfort und auch um Kosten."

Die erste Frage sei denn auch immer, wie und wo man in den kleinen Häusern ein Bett unterbrächte. Erst danach gehe es weiter. "Wir zeichnen wenig auf Papier, viel direkt an die Wand", erklärt er den kreativen Vorgang. Dann würden Attrappen aus Pappe gebaut - und so könne man schnell herausfinden, ob etwa die Dusche an dem geplanten Platz auch wirklich funktioniere.

Aus dem kleinen Backsteinhäuschen mit weißen Sprossenfenstern an der Nieuwe Amstelbrug wurde das Sweets-Hotelzimmer mit der Nummer 207. Der Hochkantquader, entworfen 1912 vom Niederländer Jo van der Mey, einem führenden Architekten der Amsterdamer Schule, ist charmant, aber mit gerade einmal zwölf Quadratmetern Grundfläche wirklich winzig. Doch beim Design-Picknick habe er die Luke im Boden entdeckt, erinnert sich Glasl. Und darunter einen tiefen Versorgungsschacht, womit der Raum die stattliche Höhe von 3,95 Metern erreicht. "So entstand sofort die Idee, eine Holzbox aus Multiplexplatten mitten hineinzusetzen", sagt der Architekt.

Eine Kiste im Raum, in deren Boden sich auf Kellerebene das rosa gekachelte Badezimmer versteckt und auf deren Oberkante eine Schlafstätte entstehen konnte. Samt Platz für Brettspiele, Bücher und das Notebook, das Infos zur Umgebung oder auch zum Check-out bereithält. Und für die Ohrenstöpsel, sollte der Gast links und rechts der viel befahrenen Brücke aufgrund der breiten Straßenkreuzung an Schlafstörungen leiden. Das Bimmeln der Tram und ihr dunkles, dröhnendes Rattern über die Nieuwe Amstelbrug, der Verkehr, die Rasanz der Fahrradfahrer, die vorbeiziehenden Schleppkähne, all das ebbt hier selten ab.

Die Holzbox ist ein links-, rechts- und hinterwandbündiger Einbau, der als Raumteiler fungiert - aber vertikal: An ihrer Außenseite sind schmale Borde in die Box integriert, auf denen ein paar Gläser und Eierbecher stehen. Aber in seinem untergeschossigen Innern bietet der Kasten neben einem durch Milchglasschwingtüren abgetrennten Badezimmer mit offener Dusche auch tiefe Fächer und genug Stauraum für Kühlschrank, Safe und die Küchenutensilien samt Espressomaschine sowie zwei Bademänteln.

Trotz der Enge wird man beim Betreten des Häuschens nicht unvermittelt von dem Holzobjekt ausgebremst. Zwischen ihm und der Eingangstür bleibt - übereck zwischen zwei Sprossenfenstern platziert - Raum für einen quadratischen Frühstückstisch. Einer der beiden Stühle daneben, ein schweres, wie aus grünem Plastilin geknetetes Ungetüm, wurde vom holländischen Designer Dirk Vander Kooij aus Kühlschrankresten recycelt. "Ich achte beim Einrichten darauf, dem Charakter des Hauses zu entsprechen, aber auch unsere heutige Zeit einzubringen", erklärt Oxenaar den eklektischen Stil der Einrichtung. Sie berichtet von zufriedenen Kunden: "Von vielen Gästen hören wir, sie hätten in unseren Häuschen Glück empfunden." Die Niederländerin hat dafür ihre eigene Erklärung: "Menschen werden dort glücklich, weil sie einen eigenen, unverwechselbaren Raum in der Stadt haben. Einen Raum, der sie vielleicht an ihre Kindheit erinnert."

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Quelle:
SZ vom 01.06.2019
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