Altersgerechtes Wohnen:"Schlusslicht in Europa"

Barrierefreie Wohnstätten und Wohnungen für die ältere Generation sind in Deutschland Mangelware - doch die Bauwirtschaft reagiert nur langsam auf den steigenden Bedarf.

Von Silke Stadler

In Deutschland sind nur ein Prozent der Wohnungen für das Wohnen im Alter tauglich. Zu dieser Feststellung kommt eine aktuelle Studie des Bundesverbands Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen in Berlin (BFW), die auf einer Befragung unter Branchenverbänden aus zwölf europäischen Staaten mit insgesamt etwa 30.000 Immobilien- und Wohnungsunternehmen basiert. Von 39 Millionen Wohnungen in Deutschland sind gerade 350.000 altengerecht gebaut.

Altersgerechtes Wohnen: Eine barrierefreie Dusche ist nach wie vor die Seltenheit in deutschen Wohnungen.

Eine barrierefreie Dusche ist nach wie vor die Seltenheit in deutschen Wohnungen.

(Foto: Foto: Keuco)

Die Ergebnisse dieser Umfrage decken sich mit denen einer bundesweiten Befragung, die 2006 im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Frauen, Senioren und Jugend in Landkreisen und kreisfreien Städten durchgeführt wurde. Auch diese Studie kommt zu einer durchschnittlichen Versorgungsquote von nur einem Prozent Altenwohnungen beziehungsweise barrierefreien Wohnungen.

Bis zum Jahr 2020 prognostiziert der BFW einen Bedarf von 800.000 neu zu bauenden oder zu modernisierenden Wohnungen. Erst damit würde eine Quote von drei Prozent bei den altersgerechten Wohnungen erreicht, in denen gegebenenfalls auch die ambulante Pflege durchgeführt werden kann. Dieser Aspekt gewinnt auch vor dem Hintergrund an Bedeutung, dass in absehbarer Zukunft die defizitäre Pflegeversicherung entlastet werden muss.

50 Jahre bis zum Mindestbedarf

Stellt man diesem notwendigen Mindestbedarf von drei Prozent altersgerechter Wohnungen den derzeitigen Wohnungsbau in Deutschland gegenüber, so ergibt sich ein unerfreuliches Bild. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts wurden 223.712 Wohnungen im Jahr 2006neu errichtet. Für dieses Jahr zeichnet sich ein massiver Einbruch des Wohnungsneubaus ab: Für das erste Quartal wurden nur noch 40.000 Baugenehmigungen für den Wohnungsneubau und Maßnahmen an bestehenden Gebäuden erteilt.

Dies ist gegenüber 2006 ein Rückgang von mehr als 50 Prozent. Die Abschaffung der Eigenheimzulage Ende 2005 hat diesen Trend beschleunigt. Rechnet man die Zahlen von 2007 über den Wohnungsneubau hoch, so dauert es noch 50 Jahre, bis der notwendige Mindestbedarf von drei Prozent an altersgerechten Wohnungen erreicht sein wird. Das aber auch nur, wenn jährlich zehn Prozent des Wohnungsneubaus barrierefrei gebaut beziehungsweise umgebaut werden.

Offensichtlich wird nicht genug getan - weder von Privaten noch vom Gesetzgeber. Nach Ansicht von Fachleuten sind weitere gesetzliche Präzisierungen und zudem Fördermaßnahmen nötig, um den prognostizierten Mindestbedarf an altengerechten Wohnungen von drei Prozent bis 2020 zu decken.

"Schlusslicht in Europa"

In anderen europäischen Ländern gibt es seit vielen Jahren einen anderen Umgang mit der Bereitstellung von Wohnungen für alte Menschen. So liegt zum Beispiel in den Niederlanden die Ausstattung mit altersgerechtem Wohnraum bei fünf Prozent, was sich auf eine engagierte Seniorenpolitik in den siebziger und achtziger Jahren zurückführen lässt. Auch in England oder Belgien ist die Quote höher.

Was sind die Gründe für das Defizit bei Altenwohnungen beziehungsweise barrierefreien Wohnungen in Deutschland? Auch hier beschäftigt man sich bereits seit Mitte der siebziger Jahren mit der Entwicklung von bautechnischen Details und damit, wie behinderten- und altengerechtes Bauen gestaltet werden soll. Die Basis für barrierefreies Bauen, nämlich die aktuelle DIN-Norm 18025, feiert dieses Jahr immerhin ihren 15. Geburtstag. Auch die Zahlen über die demographische Entwicklung liegen schon lange vor.

Wenig Wohneigentum in Deutschland

Bernhard H. Heiming, der den Arbeitskreis Seniorenimmobilien bei BFW leitet, ist der Meinung, dass es deshalb an für das Alter entsprechenden Wohnraum mangelt, weil vergleichsweise wenig ältere Menschen Wohneigentum besitzen. "Deutschland bildet hier das Schlusslicht in Europa", sagt Heiming. Dies ist nachvollziehbar, denn ist man nicht Eigentümer seiner Wohnung, ist es schwierig, entsprechende altersgerechte Baumaßnahmen durchzusetzen oder zu finanzieren.

Ein weiterer Grund ist die ungenügende baurechtliche Verankerung, die bei Neubaumaßnahmen auch barrierefrei nutzbare Wohnungen vorschreiben. Zwar wurde zum Beispiel 2003 in Artikel 46 der Bayerische Bauordnung aufgenommen, dass beim Neubau von Wohnanlagen mit mehr als zwei Wohnungen in einem Stockwerk alle Wohnungen barrierefrei erreichbar und auch verschiedene Räume mit dem Rollstuhl zugänglich sein müssen. Aber die Bayerische Bauordnung lässt Ermessensspielraum, ob die Wohnung dann auch in der kompletten Ausführung barrierefrei sein soll.

"Schlusslicht in Europa"

Erfahrungsgemäß wird damit nicht selten von freien Wohnungsbauträgern diesen Paragraph zu ihren Gunsten ausgelegt, um möglichst kostengünstig zu bauen. Es wird zwar keine Stufe im Zugangsbereich zu diesen Wohnungen geben. Die eigentliche Wohnung erhält aber die Standardausstattung.

Mehrkosten sind keienswegs grenzenlos

So fehlt in der Regel eine bodengleiche Dusche, um einen Pflegebedürftigen ohne große Mühen unter die Dusche schieben zu können. Auch das Schlafzimmer ist nicht groß genug, um den auf Pflege angewiesenen Bewohner zu Hause betreuen zu können.

Der Balkon, der als Erholungsraum dient und speziell für Menschen, die sich nicht mehr aus dem Haus bewegen können, besonders wichtig ist, kann nicht mehr genutzt werden. Denn die üblichen Schwellen stellen ein unüberwindbares Hindernis und damit auch eine Gefahrenquelle dar.

Aber die Mehrkosten für den Bau der Wohnungen, entsprechend der DIN-Norm gebaut, fallen mit Blick auf die Gesamtkosten, wenig ins Gewicht. Werden diese Wohnungen im Erdgeschoss untergebracht, entfällt sogar der Lifteinbau. Selbst Vertreter von Bauträgern sind der Meinung, dass bei exakten baurechtlichen Vorgaben, die Wohnungen in einem Stockwerk einer Wohnanlage nicht nur barrierefrei erreichbar, sondern auch barrierefrei zu nutzen sein müssten.

Dann wäre auch die jeweilige Konkurrenz gezwungen, solche Wohnungen zu bauen, und alle Anbieter müssten diese Kostensteigerungen in ihre Kalkulation einbeziehen.

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