Experten nach dem Lehman-Beben:"Die Krise wird sich ausbreiten"

Nach dem Beben an der Wall Street kehrt langsam Optimismus zurück. Experten warnen vor Panikmache - und die Politik fordert Geschlossenheit.

Der Tag nach dem Kollaps ist der Tag der Analysen: Langsam begreifen New York und die ganze Welt das Drama um die US-Investmentbank Lehman Brothers. Langsam verarbeiten Experten die Bandbreite des Bebens an der Wall Street. Langsam versuchen sie sich in Analysen.

Experten nach dem Lehman-Beben: Fallende Börsenkurse: Experten glauben jedoch, der Höhepunkt der Finanzkrise ist überstanden.

Fallende Börsenkurse: Experten glauben jedoch, der Höhepunkt der Finanzkrise ist überstanden.

(Foto: Foto: AFP)

Ein gemeinsames Einschreiten von Regierungen und Finanzinstituten fordert der US-Wirtschaftsnobelpreisträgers Joseph Stiglitz. Nur so könne noch verhindert werden, dass die aktuellen Finanzturbulenzen das Ausmaß einer Weltwirtschaftskrise wie 1929 erreichen. "Es ist allgemeine Ansicht, dass wir jetzt die Instrumente haben und wissen, wie eine weitere große Depression zu verhindern ist", sagte Stiglitz. "Allerdings wird dieses Wissen nicht immer in Handlungen umgesetzt." Der ehemalige Chefvolkswirt der Weltbank erwartet, dass sich die aktuelle Krise auf den internationalen Finanz- und Immobilienmärkten weiter ausbreiten wird. Damit werde aber auch das Risiko gestreut, sagte Stiglitz. Die Lage wäre seiner Ansicht nach "deutlich schlimmer", wenn die USA alleine "all diese Verluste auffangen" müssten.

Eine Kettenreaktion durch den Gläubigerschutz für die US-Bank Lehman Brothers fürchtet Stiglitz nicht: Die US-Notenbank Fed und das US-Finanzministerium hätten "die Risiken abgewogen, bevor sie sich entschieden haben, Lehman nicht herauszukaufen", sagte er. Er sei deshalb "zuversichtlich, dass es kein kurzzeitiges Systemrisiko gibt". An eine "echte Krise, bei der eine große Zahl von Finanzinstitutionen pleite geht", glaube er nicht. "Wahrscheinlich" sei aber, dass die Krise weltweit zu einer "starken Verlangsamung" der Konjunktur führen werde.

"Geringe Auswirkungen auf das Wachstum"

Die Forderung nach mehr Gelassenheit kommt von Thomas Straubhaar, dem Chef des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts. "Wenn der Dax um vier Prozent abstürzt, heißt das noch lange nicht, dass die deutsche Konjunktur in gleichem Maße betroffen sein wird", sagte Straubhaar der Zeitung Die Welt. In Deutschland müsse ganz bestimmt keine Panik ausbrechen. "Diese neue Welle der Finanzkrise wird hierzulande allenfalls geringe Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum haben. Wachstumsprognosen werden maximal um einige wenige Zehntelpunkte nach unten zu revidieren sein", sagte Straubhaar.

Die Reaktionen der Investoren an der Börse könne man nicht mit der realen Wirtschaft gleichsetzen. "Dort geht es um Erwartungen und dramatische Reaktionen einzelner Akteure". Die meisten Ausschläge seien auf einige wenige Papiere und Unternehmen zurückzuführen. Die Masse der mittelständischen Betriebe werde deshalb nicht in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung gebremst werden, sagte der Ökonom. "Vielleicht wird es hier und da teurer, einen Kredit zu bekommen, oder es wird hier und da schwieriger, Leistungen abzusetzen. Das wird primär in den USA der Fall sein. Aber auch in den USA wird sich die Finanzkrise in der realen Welt vermutlich nicht so dramatisch auswirken, wie die Börsen das heutzutage androhen", sagte Straubhaar.

Lesen Sie im zweiten Teil die wie sich die Politik um Geschlossenheit bemüht - und welche Lehren Experten aus dem Debakel an der Wall Street ziehen.

"Die Krise wird sich ausbreiten"

In London meldete sich der britische Finanzminister Alistair Darling zu Wort und forderte Geschlossenheit. Angesichts der verschärften Finanzmarktkrise hat Darling Zentralbanken und Aufsichtsbehörden weltweit zum gemeinsamen Handeln aufgefordert. Nur so könnten die Finanzsysteme stabilisiert werden, sagte Darling am Dienstag im Fernsehsender BBC. "Das ist ganz eindeutig eine sehr schwierige Zeit." Die finanzielle und wirtschaftliche Unsicherheit betreffe alle Länder. "Wir müssen international handeln, und das machen wir auch", sagte Darling und verwies auf das Eingreifen der heimischen Notenbank, der Fed, der EZB und der Bank of Japan.

Größte Finanzmarktkrise aller Zeiten

Auch Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) ist beunruhigt über die Entwicklungen in Amerika. "Wir erleben gegenwärtig die größte Finanzmarktkrise aller Zeiten in den USA", sagte Steinbrück bei der Vorlage des Haushaltsentwurfs. "Erkennbar ist der Markt alleine nicht in der Lage und befähigt, spekulative Zügellosigkeit mit einem selbstzerstörerischen Charakter zu verhindern oder einzudämmen." Trotzdem warnte Steinbrück seine Landsleute davor, in Panik auszubrechen. Deutschland sei von den Turbulenzen an den Finanzmärkten nicht so stark getroffen wie von vielen befürchtet.

Henry Paulson, der amerikanische Finanzminister, müht sich unterdessen, den Schaden zu begrenzen. Er wirbt weiter um Vertrauen. Die Bürger könnten sich trotz allem auf die Widerstandsfähigkeit des amerikanischen Finanzsystems verlassen, sagteder Minister. Paulson verteidigte auch die Entscheidung, keine staatlichen zur Rettung der traditionsreichen US-Investmentbank Lehman Brothers zur Verfügung zu stellen. Das sei nie eine Option gewesen. Entscheidend für die Lösung der Finanzmarktkrise sei eine Stabilisierung bei den Häuserpreisen. "In einigen Monaten" dürfte der Großteil der Korrektur an den Häusermärkten vorbei sein.

Verhaltener Optimismus kommt auch von dem Ökonom und Bankenexperten Wolfgang Gerke. Er glaubt, dass der Höhepunkt der Finanzkrise nun überstanden ist. Gerke sagte der Berliner Zeitung, "dass es Anlass für Hoffnung gibt, dass wir dem Ende der Krise entgegensteuern. Das Schlimmste dürfte hinter uns liegen." Allerdings gelte es jetzt, die Lehren aus dem Debakel zu ziehen: Krisen, so Gerke, ließen sich nicht beheben, "indem Unmengen Liquidität in die Märkte gepumpt wird. Eine solche Politik ist letztlich die Ursache dieser Krise." Der Bankenexperte ist sich sicher: "Die nächste Euphorie wird wieder kommen und die nächste Krise auch."

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: