Katholische Kirche:Ein Jahr Missbrauchsgutachten: „Der Schrecken ist geblieben“

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Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

Ein Jahr nach der Veröffentlichung des Aufsehen erregenden Münchner Missbrauchsgutachtens will Erzbischof Marx vor allem zeigen: Wir haben verstanden, wir haben aus Fehlern gelernt.

Von Britta Schultejans und Laura Gastl, dpa

München (dpa) - Der Münchner Kardinal Reinhard Marx will zeigen: Er hat seine Hausaufgaben gemacht. Ein Jahr nach der Vorstellung des Gutachtens über Fälle von sexueller Gewalt im Erzbistum München und Freising, das die katholische Kirche erschütterte, präsentiert der Erzbischof seine Diözese als Vorzeigeprojekt und berichtet, was seither alles geschehen ist.

Sogar die sehr kritische Reformbewegung „Wir sind Kirche“ spricht von einer „beeindruckenden Bilanz“: Eine Stabsstelle „Seelsorge und Beratung für Betroffene“ wurde eingerichtet, geleitet von einem Priester, der selbst Opfer wurde. Es gibt eine telefonische Anlauf- und Beratungsstelle, Begegnungsveranstaltungen mit Betroffenen - und vor allem noch einmal ein deutliches Schuldeingeständnis.

„Für das damit verbundene Leid werde ich immer in der Verantwortung stehen und bitte darum nochmals um Entschuldigung“, sagt Marx. „Ich kann Geschehenes nicht rückgängig machen, aber jetzt und zukünftig anders handeln. Und das tue ich.“

Dass die Perspektive der Betroffenen anfänglich zu wenig berücksichtigt worden sei, „war unser größtes Defizit. Das müssen wir als Kirche, das muss ich als Erzbischof selbstkritisch einräumen“. Auch ein Jahr nach dem Gutachten sei das Entsetzen über die Fälle groß. „Der Schrecken ist geblieben“, sagt Marx. „Missbrauch ist und bleibt eine Katastrophe.“

Mehr als hundert neue Hinweise

Das vom Bistum bei der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) in Auftrag gegebene, vor einem Jahr vorgestellte Gutachten geht von mindestens 497 Opfern und 235 mutmaßlichen Tätern aus - und von einem weit größeren Dunkelfeld, in das nun aber womöglich auch dank der Studie etwas mehr Licht fällt.

Marx ruft zum Jahrestag der Veröffentlichung dazu auf, Hinweise auf möglichen Missbrauch zu melden. Seit dem 20. Januar 2022 gingen nach Bistumsangaben bis Ende des Jahres 57 Meldungen bei den unabhängigen Ansprechpersonen für die Prüfung von Verdachtsfällen ein, wobei auch Hinweise zu Grenzverletzungen darunter gewesen seien, die nicht in den Bereich sexuellen Missbrauchs fallen - und Meldungen zu bereits bekannten Fällen. Bayernweit waren es bei den katholischen Bistümern deutlich mehr als 100 neue Hinweise, wie eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur zum Jahreswechsel ergab.

Gutachten enthielt Vorwurf gegen verstorbenen Papst

Die Studie der Münchner Anwaltskanzlei hatte aber vor allem darum für Wirbel gesorgt, weil den ehemaligen Erzbischöfen Friedrich Wetter und Joseph Ratzinger, dem an Silvester gestorbenen Papst Benedikt XVI., persönlich Fehlverhalten in mehreren Fällen vorgeworfen wurde - ebenso Kardinal Marx.

Papst Benedikt XVI. musste Angaben, er habe als Münchner Erzbischof an einer Sitzung, in der es um einen versetzten Wiederholungstäter, einen Priester, ging, nicht teilgenommen, korrigieren. Das machte weltweit Schlagzeilen und dürfte das Andenken an den bayerischen Papst nachhaltig beschädigt haben. Wie sehr, das zeigt auch eine Pressemitteilung seines früheren Erzbistums zu seinem Gedenkgottesdienst Anfang Januar. Den „Vertuschungsvorwürfen“ gegen den emeritierten Papst widmete sie einen ganzen Absatz - und erwähnte auch die Klage vor dem Landgericht Traunstein.

Verfahren geht nach Benedikts Tod weiter

Dort klagt ein Mann, der von eben jenem, mehrfach versetzten Wiederholungstäter im oberbayerischen Garching an der Alz missbraucht worden sein soll, gegen Ratzinger und auch gegen das Erzbistum. Die zivile sogenannte Feststellungsklage hat das Ziel, die große Frage der Schuld katholischer Kirchenverantwortlicher juristisch aufzuarbeiten. Nach dem Tod des emeritierten Papstes wurde das Verfahren gegen ihn zwar zunächst ausgesetzt bis ein Rechtsnachfolger feststeht, für alle anderen Beklagten läuft aber am 24. Januar die Frist für Stellungnahmen und eine Klageerwiderung ab.

„Zu dem laufenden Verfahren äußern wir uns nicht“, sagt die Amtschefin des Bistums, Stephanie Herrmann. Zuvor hatten der Bayerische Rundfunk und das Recherchekollektiv „Correctiv“ von einem Anwaltsschreiben berichtet, in dem sich das Bistum auf eine mögliche Verjährung des Falles bezieht. „Das Zitat aus einer Korrespondenz der Rechtsanwälte im Dezember 2022 ist aus dem Zusammenhang gerissen und unvollständig“, teilte das Erzbistum später dazu mit. „Eine Entscheidung der Erzdiözese über die Einrede der Verjährung in dem konkreten Fall enthält das Schreiben nicht.“ Wie das Erzbistum sich dann offiziell zu der Klage verhält, bleibt eine spannende Frage.

„Kindesmissbrauch ist keine religiöse Angelegenheit“

Schon seit Jahren fordern Kritiker, die katholische Kirche als „Täterorganisation“ dürfe die Fälle in ihren eigenen Reihen nicht nur selbst aufarbeiten. „Kindesmissbrauch ist keine religiöse Angelegenheit“, sagt die religionspolitische Sprecherin der Grünen im bayerischen Landtag, Gabriele Triebel, und bekräftigt die Forderung nach einer unabhängigen staatlichen Ombudsstelle, an die Betroffene sich wenden können.

Die fordert auch der Vorsitzende des Münchner Betroffenenbeirats, Richard Kick. Er hält die Fälle, die das Gutachten aufgebracht hat, immer noch für die Spitze des Eisbergs. „Wir fordern ein weiteres Gutachten für die Einrichtungen, die nicht diözesan, aber trotzdem kirchlich sind“, sagt er. „Da passiert ja noch gar nichts. Ich glaube, dass es da aber die meisten Fälle gab - unter anderem bei den Orden, in den Kinderheimen.“

Das Thema Missbrauch müsse die Kirche „kontinuierlich begleiten, es darf kein Ende geben“, sagt die Leiterin der Stabsstelle zur Prävention von sexuellem Missbrauch, Christine Stermoljan. „Der Schutz der Betroffenen sollte an erster Stelle stehen, nicht der der Institution.“

© dpa-infocom, dpa:230116-99-243787/6

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