Atom:Atomare Konfrontation: Wie groß ist die Gefahr?

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Russland droht, annektierte ukrainische Territorien "mit allen Mitteln" zu verteidigen. Foto: Gavriil Grigorov/Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa (Foto: dpa)

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Moskau/Kiew/Brüssel (dpa) - Angesichts der zunehmend unklaren Lage auf den Schlachtfeldern in der Ukraine werden die Töne in mehreren Hauptstädten schriller. Die Möglichkeit eines Atomschlags wird wieder ernsthaft diskutiert. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte, einen russischen Atomwaffeneinsatz unmöglich zu machen. Die von ihm dabei erwähnten "Präventivschläge" relativierte Kiew zwar kurz darauf wieder. Moskau reagierte dennoch heftig und sprach von einem Aufruf, den Dritten Weltkrieg zu starten. Doch wie kurz stehen wir wirklich davor? Einige wichtige Fragen und Antworten:

Wieso ist die Sorge vor einer nuklearen Eskalation gestiegen?

Hintergrund ist Russlands Angriffskrieg in der Ukraine, in dem Moskau trotz der jüngsten Annexion von Gebieten zunehmend die Kontrolle verliert. Auf der einen Seite hat Russlands Führung zuletzt mehrfach erklärt, die Eroberungen mit "allen zur Verfügung stehenden Mitteln" zu verteidigen, was auch den Einsatz von Atomwaffen impliziert. Auf der anderen Seite stehen die Äußerungen des ukrainischen Staatschefs Selenskyj und von US-Präsident Joe Biden. Der eine hat Präventivmaßnahmen gegen einen russischen Atomwaffeneinsatz gefordert. Der andere sagte, die Welt stehe so dicht vor einem Atomwaffenkrieg wie seit der Kuba-Krise 1962 nicht mehr.

Was sind die nuklearen Optionen Russlands im Ukraine-Krieg?

Russland hat sowohl strategische als auch taktische Atomwaffen. Strategische Atomwaffen könnten wohl nur zum Einsatz kommen, wenn sich der Krieg in der Ukraine zu einer vollwertigen kriegerischen Auseinandersetzung Russlands mit der Nato ausweiten würde. Taktische Atomwaffen hingegen haben kleinere Sprengköpfe und könnten daher von Russland theoretisch für einen begrenzten Einsatz in der Ukraine eingesetzt werden. Aber auch hier wäre das Eskalationsrisiko wegen der Verstrahlung großer Gebiete gewaltig.

Was besagt Russlands Atomdoktrin?

Die Atomdoktrin besagt, dass Moskau Atomwaffen nur als Antwort in zwei Fällen verwendet werden darf: entweder bei einem atomaren Angriff auf Russland oder bei einem Angriff auf Russland mit konventionellen Waffen, der die Existenz des Landes selbst gefährdet. Der zweite Punkt ist auslegungsfähig: Ist die ukrainische Rückeroberung der von Russland annektierten Gebiete aus Moskauer Sicht schon eine Gefährdung der Existenz des Landes? Kremlsprecher Dmitri Peskow hat zuletzt angedeutet, dass dies nicht der Fall sei.

Für wie wahrscheinlich halten Experten einen solchen Schlag?

Die meisten Experten halten einen Atomschlag für unwahrscheinlich. Technisch sind die russischen Atomstreitkräfte zumindest auf dem Papier zwar dafür ausgerüstet - es gibt geschätzt rund 6000 taktische Atomsprengköpfe und mehr als 1000 strategische. Doch die Folgen einer solchen Aktion wären auch für Russland selbst ungewiss. Ein taktischer Atomschlag gegen die Ukraine birgt ein unkalkulierbares Eskalationsrisiko.

Zugleich ist unklar, welche militärischen Ziele damit überhaupt erreicht werden können. Ukrainische Militäreinheiten sind nahe der Front, Moskau würde also auch die eigenen Truppen gefährden. Der Einsatz würde zudem das Territorium verseuchen, das Russland beansprucht.

Der Einsatz strategischer Atomwaffen wiederum würde wohl das Ende Russlands bedeuten. Zwar haben Moskauer TV-Propagandisten zu Kriegsbeginn getönt: "Was brauchen wir die Welt, wenn in dieser Welt kein Platz für Russland ist", um anzudeuten, dass Moskau keine Niederlage in der Ukraine akzeptieren werde. Viele Beobachter halten Kremlchef Wladimir Putin aber für klug genug, nicht den Selbstzerstörungsknopf zu drücken. Und selbst in dem Fall müssten alle unterstellten Offiziere in der Kommandokette mitspielen, was nach den jüngsten Querelen innerhalb der russischen Sicherheitsorgane ebenfalls alles andere als sicher sein dürfte.

Wie sieht das die Ukraine?

In der Ukraine wird die Gefahr russischer Atomschläge unterschiedlich bewertet: Präsident Selenskyj sagte, Moskaus Atomdrohungen seien ernst zu nehmen. Verteidigungsminister Olexij Resnikow hingegen meinte kürzlich in einem Interview: "Wo werden sie diese einsetzen? An der Frontlinie, wo nicht nur ukrainische, sondern auch ihre eigenen Einheiten sind? Im Schwarzen Meer? Dort sind drei Nato-Staaten." Bei Treffen mit westlichen Partnern betonte Resnikow: "Hört auf, Russland zu fürchten. Das ist nicht die zweitbeste Armee der Welt, das sind Bettler, Plünderer und Vergewaltiger."

Wie würde der Westen reagieren?

Um das Risiko eines Atomwaffeneinsatzes für Putin unkalkulierbar zu machen, äußern sich die Verantwortlichen in Nato- und EU-Ländern öffentlich nicht detailliert zu solchen Fragen. Klar ist, dass die Reaktion am Ende davon abhängt, was Russland genau tut. Sollte Putin "lediglich" einen Atomwaffentest durchführen lassen, um die Ukraine zur Aufgabe ihres Abwehrkampfes zu bewegen, würde sich die Reaktion des Westens vermutlich auf nicht-militärische Maßnahmen wie eine diplomatische Verurteilung und zusätzliche Sanktionen beschränken.

Für den Fall eines russischen Atomwaffenangriffs auf Großstädte wie Kiew gilt hingegen nicht einmal ein direktes Eingreifen der Nato als ausgeschlossen. Sollten alle Bündnispartner zustimmen, könnte die Nato dann etwa versuchen, die russischen Invasionstruppen in der Ukraine militärisch auszuschalten. Ein weitere Option sind nach Angaben aus Bündniskreisen massive Cyberangriffe - zum Beispiel, um kritische Infrastruktur wie die Stromversorgung oder die Kommunikation lahmzulegen. Ein solches Vorgehen gilt auch dann als denkbar, wenn Russland kleinere taktische Nuklearwaffen gezielt gegen die ukrainischen Streitkräfte einsetzen sollte.

"Was soll die Nato tun? Den Einsatz von Atomwaffen durch Russland unmöglich machen" - mit Sätzen wie diesem hat der ukrainische Präsident Selenskyj am Donnerstag den Anschein erweckt, er fordere von der Nato Präventivschläge gegen Russland.

Später entschärfte er seine umstrittenen Aussagen zu einem "Präventivschlag" gegen Russland in einem Fernsehinterview. "Man muss präventive Tritte ausführen, keine Angriffe. Wir sind keine Terroristen, wir greifen kein anderes Territorium an", sagte Selenskyj am Freitag in Kiew in einem BBC-Interview auf Englisch. Auch nach all dem Kriegsleid sei die Ukraine noch immer nicht bereit, "Menschen umzubringen, so wie die Russen es tun".

Doch ist ein solches Vorgehen denkbar?

Nein. Die Nato versteht sich als reines Verteidigungsbündnis, das auf keinen Fall zur Kriegspartei werden will - auch aus Sorge vor einem Dritten Weltkrieg. Im aktuellen Strategischen Konzept heißt es so ganz deutlich: "Die Nato sucht keine Konfrontation und stellt für die Russische Föderation keine Bedrohung dar." Aus diesen Grund liefern Nato-Staaten bislang auch keine westlichen Kampfpanzer an die ukrainischen Streitkräfte. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bezeichnete das "atomare Säbelrasseln" Russlands zuletzt mehrfach als unverantwortlich und gefährlich.

Für wie realistisch hält die Nato einen Atomwaffeneinsatz?

In der Nato wird die Ansicht vertreten, dass der Einsatz von Atomwaffen für Russland militärisch keinen Sinn ergeben würde - vor allem wegen der unkalkulierbaren Folgen. So wird auch darauf verwiesen, dass die Russen im Fall eines offensiven Atomwaffeneinsatzes fürchten müssten, dass sich auch Länder wie China und Indien klar gegen sie stellen.

Wann standen sich USA und Russland letztmals atomar gegenüber?

Vor 60 Jahren - im Oktober 1962 - drohte nach der Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen auf Kuba eine atomare Eskalation im Kalten Krieg der damaligen Supermächte. Wenige hundert Kilometer vor ihrer Südküste sahen sich die USA einer unmittelbaren Bedrohung ausgesetzt und reagierten mit einer Seeblockade rund um Kuba - verbunden mit der Forderung an die Sowjetunion, die Raketen wieder abzuziehen. Unter der Führung Nikita Chruschtschows willigte Moskau schließlich ein. Bedingung war, dass die USA die sozialistische kubanische Regierung nicht gewaltsam stürzten.

© dpa-infocom, dpa:221007-99-45263/3

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