Krieg:Annexionen im Krieg gegen Ukraine: Was Russland jetzt vorhat

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Stimmabgabe während des Scheinreferendums in der ukrainischen Region Donezk. Im Anschluss ist das Gebiet - wie auch drei weitere - annektiert worden. Foto: Uncredited/AP/dpa (Foto: dpa)

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Moskau/Kiew (dpa) - Mit der Annexion der vier besetzten ukrainischen Regionen verschiebt Russland erstmals seit der Einverleibung der Schwarzmeer-Halbinsel Krim 2014 wieder gewaltsam Grenzen in Europa. Die Vereinten Nationen kritisieren dies als Völkerrechtsbruch. Die Ukraine fordert schwere Waffen vom Westen, um die Gebiete zu befreien und verlangt von der EU und den USA noch härtere Sanktionen. Der bereits seit sieben Monaten andauernde Krieg geht damit in eine neue Phase. Wie es nun weiter geht, dazu einige Fragen und Antworten:

Wie sind die Annexionen ukrainischer Gebiete abgelaufen?

Moskau hat mit den eigens eingesetzten russischen Führungen der ukrainischen Gebiete Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja auf deren Antrag Verträge über die Aufnahme in sein Staatsgebiet abgeschlossen. Nun sollen die Dokumente noch vom russischen Verfassungsgericht geprüft und kommende Woche vom russischen Parlament - der Staatsduma - und dem Föderationsrat - dem Oberhaus - besiegelt werden. Den Krieg dürfte das weiter anfachen, weil die Ukraine Teile der Gebiete kontrolliert und sie mit Hilfe westlicher Waffen komplett befreien will.

Allerdings hat die Atommacht Russland damit gedroht, alle verfügbaren Mittel zur Verteidigung der Gebiete zu nutzen. Zudem hat Moskau als Mindestziel die komplette Eroberung des Gebiets Donezk genannt. Bisher kontrollieren russische Truppen dort etwa 58 Prozent. Kremlchef Wladimir Putin lässt bei einer umstrittenen Teilmobilmachung 300.000 Reservisten einziehen, die dann die besetzten Gebiete halten sollen.

Wie groß ist das Gebiet?

Es geht um eine Fläche von über 108.000 Quadratkilometern. Das entspricht der Größe von Bayern und Baden-Württemberg zusammen. Einschließlich der bereits auf ähnliche Weise 2014 annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim verliert die Ukraine die Kontrolle über fast 20 Prozent ihres Staatsgebiets. Wie schon damals ist eine internationale Anerkennung auch diesmal nicht in Sicht. Eine Rückgabe der Gebiete über diplomatische Verhandlungen schließt Moskau aus.

Russland wirbt bei den Menschen mit einer historischen Heimkehr zum Mutterland und mit höheren Renten und Sozialleistungen als in der Ukraine. Wie bei der Krim-Annexion sollen die Menschen automatisch russische Staatsbürger werden. Auf der Halbinsel hatten Bürger damals übergangsweise Zeit, sich aktiv dagegen auszusprechen und nach einer Erklärung die ukrainische Staatsbürgerschaft zu behalten.

Müssen Menschen in den besetzten Gebieten nun kämpfen?

Während es auf der Krim nun auch eine Teilmobilmachung von Reservisten gibt, um die neuen besetzten Gebiete zu halten, müssen die Bürger in diesen Gebieten wohl keine direkte Einberufung zum Kriegsdienst fürchten. Allerdings galt in den schon seit Jahren von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebieten in Luhansk und Donezk jetzt bereits die Mobilmachung. Dort kämpfen seit acht Jahren auch Ukrainer gegen Ukrainer.

In den frisch besetzten Gebieten der Regionen Saporischschja und Cherson, die Putin in der Nacht zum Freitag als unabhängige Staaten anerkannte, dürfte es wohl eine Übergangsregelung geben. Allerdings hatte Russland zuletzt auch Hunderttausende Pässe in den umkämpften Gebieten ausgeteilt. Wer russischer Staatsbürger und Reservist ist, kann unter die Teilmobilmachung fallen.

Wie wird der Anschluss in Russland aufgenommen?

Eine Euphorie wie bei der Annexion der Krim 2014 ist in Russland überhaupt nicht zu spüren. Die Stimmung ist diesmal eher gedrückt, weil es anders als damals nun einen blutigen Krieg mit Tausenden Toten gibt. Ein Ende ist nicht in Sicht. Der Preis der Annexion ist hoch, weil Milliardenbeträge für den Wiederaufbau der zerstörten Gebiete nötig sind. Zudem drücken die westlichen Sanktionen auf die russische Wirtschaft. Patrioten sind zwar begeistert von Putins Vorgehen - auch nach den Niederlagen der Armee in der Ukraine. 

Es gibt aber auch massive Proteste gegen den Krieg. Die von Putin angeordnete Teilmobilmachung trifft viele Familien ins Mark. Dabei war der Kremlchef lange deshalb populär, weil er sich nicht in das Privatleben der Menschen einmischte. Das ist jetzt vorbei, wie die russische Politologin Tatjana Stanowaja sagt. Sie meint auch, dass Teile der Elite nicht bereit seien, jeden beliebigen Preis für einen russischen Sieg zu bezahlen. Sie hält es angesichts der Proteste gegen die Mobilmachung, der neuen Welle an Repressionen und der zunehmenden internationalen Isolation Russlands für möglich, dass es zu Rissen im System kommt, die Putins Macht gefährden könnten.

Wie begründet Putin die Annexion?

Putin begründet diese mit dem angeblichen Schutz der dortigen Zivilbevölkerung vor Angriffen ukrainischer Nationalisten. Zweieinhalb Millionen Menschen hätten wegen der Kämpfe fliehen müssen. "Diejenigen, die geblieben sind - etwa fünf Millionen Menschen - sind nun ständigen Artillerie- und Raketenangriffen von neonazistischen Kämpfern ausgesetzt. Sie greifen Krankenhäuser und Schulen an und verüben Terroranschläge gegen Zivilisten", behauptete Putin in seiner Mobilmachungsrede. Inzwischen sagen auch viele russische Soldaten, dass sie dort keine ukrainischen Nazis gefunden hätten.

Was bedeuten das für die ukrainischen Gegenoffensiven?

In der Ukraine wurden die Scheinreferenden und die Teilmobilmachung betont gelassen zur Kenntnis genommen. Der externe Berater des ukrainischen Präsidentenbüros, Mychajlo Podoljak, fragte auf Twitter: "Läuft immer noch alles nach Plan oder doch nicht?" Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte bereits davor betont, die Ukraine lasse sich nicht einschüchtern. Zudem dürften in den kommenden Monaten auch auf ukrainischer Seite frische Kräfte eintreffen. So läuft etwa die Ausbildung ukrainischer Soldaten in Großbritannien und anderen westlichen Staaten.

Wie verhält sich der Westen?

Hochrangige Politiker aus dem Westen werten Putins Schritt als "Zeichen der Schwäche" und als "Akt der Verzweiflung" wegen der jüngsten militärischen Misserfolge Russlands. Bundeskanzler Olaf Scholz sagte, Putin habe die Situation von Anfang an "komplett unterschätzt". Offen ist aber, wie westliche Staaten abseits von Worten mit der neuen Eskalation umgehen - insbesondere mit Putins Drohung, notfalls auch Atomwaffen einzusetzen. Bislang wurden weitreichende Sanktionen gegen Russland verhängt - und die USA präsentierten wegen der Annexion am Freitag sofort weitere Strafmaßnahmen. Auch die Versorgung der Ukraine mit Waffen und Munition läuft weiter. Ein direktes militärisches Eingreifen des Westens gilt aber weiter als ausgeschlossen.

© dpa-infocom, dpa:220930-99-953034/3

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