Geschichte - Porta Westfalica:Lost Place mit dunkler Geschichte: KZ-Häftlinge in Stollen

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Ein Mann geht durch eine teilweise eingestürzten Stollenanlage im Jakobsberg bei Porta Westfalica. Foto: Boris Roessler/dpa/Archivbild (Foto: dpa)

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Porta Westfalica (dpa/lnw) - Faszination Unterwelt: Als die Gedenkstätte Porta Westfalica Ende April wieder Besucherführungen in der Stollenanlage im Jakobsberg anbot, war der Andrang groß. Die Stollenanlage mit ihren Tunneln macht neugierig. Zumal sie viele Jahre lang nicht betreten werden durfte. "Man will bei so einem Lost Place auch mal hinter die Tür gucken", sagt Thomas Lange, Historiker und Geschäftsführer der Gedenkstätte. Lost Place - der Begriff meint meist verlassene oder aufgegebene Orte.

"Was wir als unsere Aufgabe sehen: dass dieser Lost Place von Menschen ausgebaut wurde, die das womöglich nicht überlebt haben und die da unten unter ganz fürchterlichen Bedingungen Zwangsarbeit leisten mussten. Der Preis für diesen Ort waren buchstäblich Menschenleben."

Von März 1944 an, also im Zweiten Weltkrieg, wurde mit der Untertageverlagerung in "Dachs 1" begonnen. Angesichts der alliierten Luftangriffe sollte die Produktion kriegswichtiger Industrie unter Tage verlegt werden. Häftlinge von Konzentrationslagern mussten für den Ausbau der Stollen schuften, mit Schaufeln und Spitzhacke. Untergebracht waren sie "unter fürchterlichen Bedingungen" in einem ehemaligen Tanzsaal in einem Hotel in Barkhausen, wie Lange schildert. Dies war der Beginn eines Außenlagers des KZ Neuengamme in Hamburg und Teil des Systems, mit dem die SS mit KZ-Häftlingen als Arbeitssklaven die Kriegswirtschaft des nationalsozialistischen Deutschlands am Laufen hielt.

Zunächst sei der Einsatz von 500 Häftlingen bis zum Sommer 1944 geplant worden, so Lange. Angesichts der zahlreichen unbenutzten Schächte und Stollen in dem Tunnelkomplex sei der Arbeitskräftebedarf jedoch gestiegen. Etwa 3000 Häftlinge hätten schließlich in den 3 Außenlagern Barkhausen, Lerbeck und Hausberge gelebt, die für die Einwohner der Orte keineswegs unsichtbar waren. Für den Marsch der Häftlinge zur Arbeit durch den Ort Barkhausen sei etwa die Brücke über die Weser gesperrt worden. "Die Bürgerinnen und Bürger haben das jeden Tag gesehen", sagt Lange. Zudem habe es rund 2000 Zwangs- und Zivilarbeiter gegeben, die Zahl der Menschen, die zur Zwangsarbeit verschleppt worden waren, überstieg damit deutlich die Zahl der Einwohner des Orts.

Die Menschen, die in dem feuchten, kühlen Stollen schufteten, kamen aus 17 Nationen, vor allem von Dänen, Franzosen und Niederländern sind sogenannte Erinnerungsbriefe erhalten. Doch die größte Häftlingsgruppe stammte aus der Ukraine. "Wenn man sich die Herkunftsorte aus Häftlingskarten ansieht, dann sind das genau die Orte, an denen heute Krieg ist - Kiew, Charkiw und so weiter", sagt Lange.

Nach dem Krieg wurde in Porta Westfalica wieder zum Alltag übergegangen, die Stollenanlage recht früh wieder ziviler Nutzung übergeben. "Bis in die 80er, 90er Jahre fehlte jeder Hinweis darauf, dass es überhaupt Außenlager in Porta Westfalica gab", erzählt Lange. "Die erste Erinnerungsstele ist 1992 errichtet worden."

Umso mehr Wert legt die von einem Verein getragene Gedenkstätte darauf, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Häftlinge in den Mittelpunkt ihrer Führungen zu stellen. Der Anspruch sei, diese Orte wieder sichtbar zu machen.

"Dachs 1 ist eine monumentale steinerne Erinnerung an ein mitten im Ort gelegenes Außenlager sowie an die Brutalität und Grausamkeit des NS-Regimes", sagt Babette Lissner, die zu den Gründungsmitgliedern der Gedenkstätte gehört. "In der Region und darüber hinaus gibt es keinen vergleichbaren historischen Ort, an dem die Auswirkungen des Zusammenwirkens von NS-Ideologie, Rüstungsindustrie, Bevölkerung und der KZ-Außenlager deutlicher vermittelt werden könnten."

Bis Ende Juli sollen die Führungen stattfinden, derzeit gibt es Anmeldungen für mehr als 400 Veranstaltungen. Angesichts des großen Interesses müssen sich Interessenten auf Wartezeiten einstellen, heißt es. Eine Führung buchen können zunächst diejenigen, die sich seit 2019 oder früher auf der Warteliste befinden.

© dpa-infocom, dpa:220515-99-293804/3

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