Familie:Wie viel Deutsch braucht die Schule?

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Berlin (dpa) - Philipp Möller erinnert sich gut an den Schulbeginn seiner Tochter: "Wir haben genau gesehen, wie Klara, die anfangs mit einer Riesenfreude in die Schule ging, jeden Tag ein bisschen frustrierter zurückkam", sagt der Berliner.

Der Grund: "Das Sprach- und dadurch das Lernniveau waren so brachial gering, dass die Lehrerin es schwer hatte, da überhaupt Unterricht zu machen.

Es gab nur vier oder fünf andere Kinder ohne Migrationshintergrund in der Klasse." Möller weiß aus seiner zweijährigen Arbeit als Vertretungslehrer, wie es ist es, wenn Schüler und Lehrer nicht dieselbe Sprache sprechen, und hat seine Erfahrungen in dem Buch "Isch geh Schulhof" (2012) veröffentlicht.

Substanzielle Unterschiede in den Lesekompetenzen

Das Problem geht über die Grundschulzeit hinaus: "Sprachliche Defizite werden nicht in den ersten vier Jahren ausgeglichen", weiß Bildungsforscherin Nele McElvany, Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Schulentwicklungsforschung an der TU Dortmund. Ihr Institut leitet die IGLU-Studie zu Lesekompetenzen bei Grundschülern in Deutschland. Die Untersuchungen zeigten, dass auch nach vier Jahren substanzielle Unterschiede in den Lesekompetenzen zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund bestünden.

Der Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund an allgemeinen und berufsbildenden Schulen liege laut Mikrozensus bundesweit bei durchschnittlich etwa 37 Prozent. "Wir gehen davon aus, dass er künftig noch ansteigen wird", so McElvany. Die Verteilung der Schüler sei sehr unterschiedlich. "90 Prozent leben in Berlin oder den westdeutschen Bundesländern", berichtet sie.

Möller zog nach sechs Wochen die Reißleine. "Wir sind an den Stadtrand gezogen. Es war auch eine Flucht", erinnert er sich. Doch was, wenn eine Flucht nicht möglich ist? Was muss an Schulen passieren, damit effektiver Unterricht möglich ist? Wären Quoten hilfreich? Oder sollten Kinder ohne ausreichende Deutschkenntnisse von der Grundschule zurückgestellt werden, wie es ein CDU-Politiker forderte?

Sprachkenntnisse abhängig vom sozioökonomischen Hintergrund

McElvany hält es für "wenig sinnvoll, eine künstliche Zahl festzulegen". Entscheidender als die Herkunft seien die Sprachkenntnisse, und die seien stark abhängig vom sozioökonomischen Hintergrund. "Ich könnte ja zum Beispiel eine Klasse haben, wo bei jedem Kind ein Elternteil im Ausland geboren ist, aber alles Akademiker sind, mit Deutsch als Familiensprache und die Kinder schon lesen können, wenn sie in die Schule kommen. Da wird super gelernt werden."

Berührungspunkte mit der deutschen Sprache schaffen

"Man muss die systematische sprachliche Förderung im Elementarbereich ausbauen, damit die Kinder überhaupt eine Chance haben, wenn sie in die Schule kommen", sagt die Forscherin. Und was, wenn Kinder nicht in die Kita gehen? "Sie sind dann deutlich im Nachteil. Die Berührung mit der deutschen Sprache ist ein Schlüssel", so McElvany. Es sei nicht nötig, zu Hause auf die eigene Muttersprache zu verzichten, aber: "Eltern sollten ihren Kindern Berührungspunkte mit der deutschen Sprache bieten. Es kann zum Beispiel eine Maßnahme sein, deutschsprachige Fernsehprogramme zu sehen."

"Man muss fördern, aber auch fordern", ist Philipp Möller überzeugt. "Man muss auch auf Familien zugehen, damit sie daran mitwirken, dass das Kind die Sprache dieses Landes erlernt. Und wenn es die Eltern nicht können, sollten Angebote gemacht werden, die auch genutzt werden sollten."

Bundesweit keine einheitliche Linie

Doch wer stellt wann fest, wie gut ein Kind Deutsch spricht und wie stark es gefördert werden muss? Hier gebe es bundesweit keine einheitliche Linie. McElvany wünscht sich einheitliche Standards, die festlegen, welche Sprachkompetenzen Kinder in einem bestimmten Alter haben sollten. Außerdem seien einheitliche diagnostische Testverfahren nötig - auch für Kitas. Daraus könnten dann einheitliche Schlüsse darüber gezogen werden, wo Förderung notwendig ist und wie das umgesetzt werden kann.

Allerdings sei der Forschungsbedarf noch immer groß, das Thema Sprachförderung sehr komplex. Obwohl Kinder mit anderer Muttersprache an deutschen Schulen kein neues Phänomen seien, sei nur wenig darüber bekannt, welche Art der Förderung wirklich helfe. "Es gibt grundsätzliche Erkenntnisse, aber nicht dieses EINE Förderprogramm."

Lehrerschaft aufklären und sensibilisieren

Stefan Düll vom Vorstand des Deutschen Philologenverbands hält es für sinnvoll, auch bei der Lehrerschaft anzusetzen: "Es könnten mehr Menschen mit Migrationshintergrund in unserem Beruf sein", sagt er. Zudem könnten Lehrer ohne Migrationshintergrund stärker sensibilisiert werden: "Es ist sicherlich hilfreich, in Lehrerfortbildungen darüber aufzuklären, welche Besonderheiten es in verschiedenen Kulturen gibt", ist er überzeugt. "So kann man besser verstehen, warum es zu gewissen Missverständnissen oder zu völligem Unverständnis kommt, was Konzepte und Werte betrifft."

Literatur:

Philipp Möller: Isch geh Schulhof, Bastei Lübbe, 362 Seiten, ISBN-13: 978-3-404-60696-2, 2012, 10 Euro

© dpa-infocom, dpa:210215-99-446518/10

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