Familie:Warum Aufklärung für Kinder so wichtig ist

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Duisburg (dpa/tmn) - Niemand findet es wohl peinlich, beim Familienessen über Gemüse zu reden. Über Sex hingen fällt es Eltern oft immer noch schwer, die richtigen Worte zu finden. Dabei sind Gespräche über dieses Thema immens wichtig. Sexualtherapeut Carsten Müller hat es sich daher zum Ziel gesetzt, dass alle in der Familie am Ende über Sex genauso unbefangen reden können wie über Brokkoli.

In seinem Buch "Sex ist wie Brokkoli nur anders" gibt er Antworten auf Fragen wie "Wie erkläre ich meinem Kind, woher die Babys kommen?", "Was tun, wenn der Teenager Pornos schaut" oder "Darf ich als Vater meine Tochter auf den Mund küssen?". Worauf es beim Aufklären aufkommt und warum das Internet meist ein schlechter Ratgeber ist, erklärt Carsten Müller im Interview.

Frage: Herr Müller, Eltern wollen heute gerne in alles involviert sein, beschäftigen sich zum Beispiel mit den Speiseplänen ihrer Kinder in Kitas und Schulen. Die Aufklärung ihrer Kinder würden die meisten aber gerne delegieren: Warum ist das so?

Carsten Müller: Eltern wollen ihre Kinder so lange es geht vor Sex schützen. Deshalb schieben sie es vor sich her, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Eltern reden sich das auch schön, nach dem Motto "Sex ist für mein Kind noch nichts, das hat ja noch gar keine Sexualität".

Frage: Stimmt das denn?

Müller: Kindliche Sexualität hat noch nichts mit der von Jugendlichen oder Erwachsenen zu tun. Trotzdem kommen Kinder als sexuelle Wesen auf die Welt. Sie interessieren sich schon für ihren Körper, die Geschlechtsteile - erst die eigenen, irgendwann auch für die von Mama und Papa oder den Freunden im Kindergarten. Und sie brauchen dafür eine Sprache, um die Dinge richtig benennen zu können.

Wir als Eltern haben es in der Hand, unsere Kinder in der Entwicklung ihrer Sexualität zu begleiten. Und nur wenn ich begleite, kann ich die Entwicklung auch prägen. Das ist doch eine Riesenchance!

Frage: Warum fällt es Eltern oft so schwer, Fragen wie "Mama, warum sind da Haare an deiner Scheide?" zu beantworten?

Müller: Weil Eltern sich in diesen Momenten mit ihrer eigenen Scham und Sprachlosigkeit konfrontiert sehen. Diese Sprachlosigkeit wird ja oft von Generation zu Generation weitervererbt. Dabei soll es in Gesprächen mit Kindern über Sexualität nicht um Perfektion gehen. Ich darf peinlich berührt sein oder keine Antwort wissen!

Wichtig ist, meinem Kind keine Antworten zu verweigern, sie für ihre Neugierde zurechtzuweisen oder ihnen Schamgefühle einzureden, "weil man über so etwas nicht spricht."

Frage: Reicht es nicht, wenn ich mit meinem Kind ab dem Teenageralter über Sex rede?

Müller: Im Kindesalter wird geprägt, wie Jugendliche in der Pubertät in ihre Sexualität hineinwachsen. Deshalb ist es wichtig, schon auf die Fragen von Kindergartenkindern einzugehen - auch auf die krassen! Wenn sie merken, ich kriege Antworten auf meine Fragen, dann haben sie später als Jugendliche ein gutes Gefühl und wissen, ich kann mich an meine Eltern wenden.

Fehlt diese Gewissheit, bemühen junge Menschen mit größerer Wahrscheinlichkeit das Internet bei der Suche nach Antworten - und landen dabei auf Pornoseiten oder sehen Bilder und Videos, die sie verstören können.

Frage: In welchen Situationen spricht man am besten mit Kindern über Sex?

Müller: Es muss nicht das eine große Küchengespräch geben, in dem Eltern von A bis Z alles erklären. Viel mehr geht es darum, Signale von Kindern aufzugreifen. Und da geht es vielleicht erstmal um eine konkrete Frage.

Frage: Und was machen Eltern mit Teenagern, die generell etwas mundfaul geworden sind - und schon gar nicht über intime Themen reden wollen?

Müller: Denen würde ich zumindest ein Angebot machen: Literatur anschaffen, Bücher irgendwo in der Wohnung hinlegen, die sie sich nehmen können. Erstmal werden die verstauben, aber irgendwann werden sie gelesen.

Frage: Wie ändern sich die Gespräche, wenn Kinder in die Pubertät kommen?

Müller: Für Jugendliche geht es meist weniger um biologische Fakten, sondern eher um Themen rund um Identität und Selbstwert. Sie beschäftigen Dinge wie "Bin ich schön?", "Sieht mein Körper normal aus?"

Eltern müssen in dieser Phase einerseits offen für Themen und Fragen sein, andererseits aber auch die Grenzen der Jugendlichen respektieren, wenn sie über etwas nicht sprechen wollen.

Frage: Was ist für Sie eine gelungene Aufklärung?

Müller: Das lässt sich häufig erst retrospektiv sagen. Wichtig ist, dass darin zwei Komponenten vorkommen, die emotionale und die sachliche Aufklärung. Die sachliche wird häufig über die Schule abgedeckt, für die emotionale sind eher die Eltern zuständig.

Die wird vor allem wichtig, je älter Kinder werden. Dann gibt es Dinge wie das erste Mal, die hohen Erwartungen, die damit verknüpft sind und den Druck, dass es perfekt sein muss. Eltern tun gut daran, ihre Kinder darauf vorzubereiten, dass der erste Sex auch ganz anders ablaufen kann, als erwartet.

Frage: Warum ist es für Eltern oft ein heikler Moment, wenn ihre Kinder sexuell aktiv werden?

Müller: Weil es natürlich was mit Loslassen zu tun hat. Je freier mein Kind wird, umso mehr muss ich mich mit mir selbst beschäftigen. Viele Eltern haben aber den Wunsch, gebraucht zu werden und halten ihr Kind deshalb fest.

Und es konfrontiert Erwachsene mit der eigenen Sexualität und der eigenen Partnerschaft. Der Frage, wie zufrieden man mit dem gemeinsamen Sex ist oder eben nicht.

Literatur: Carsten Müller: "Sex ist wie Brokkoli nur anders. Ein Aufklärungsbuch für die ganze Familie", Edition Michael Fischer/EMF Verlag, 288 Seiten, 17,00 Euro, ISBN 9783960937449.

© dpa-infocom, dpa:210121-99-116048/5

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