Gesundheit:Infektionsmediziner: Schule ohne Abstandsregeln vertretbar

Corona
Der Virologe Helmut Fickenscher steht in einem Labor. Foto: Carsten Rehder/dpa/Archivbild (Foto: dpa)

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Kiel (dpa/lno) - Die Wiedereinführung von Schulunterricht ohne Abstandsregeln in der Corona-Krise ist nach Auffassung des Kieler Infektionsmediziners Helmut Fickenscher gerade vor den Sommerferien ein guter Zeitpunkt. "Die bisher erfolgreiche Eindämmung des Virus macht dies vertretbar und man kann in den wenigen Wochen bis zu den Ferien Erfahrungen sammeln, bei Gefahrensituationen gegensteuern und hat die langen Ferien als zeitlichen Sicherheitspuffer" sagte Fickenscher der Deutschen Presse-Agentur. "Das ist besser, als nach den Ferien ohne eine solche Erprobungsphase ins neue Schuljahr ohne Abstandsregeln zu starten und dann möglicherweise in schwierige Situationen zu kommen."

Außerdem könnten die kleinen Klassengruppen gut voneinander getrennt werden, sagte Fickenscher. Er ist Direktor des Instituts für Infektionsmedizin des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein und Präsident der Deutschen Vereinigung zur Bekämpfung der Viruskrankheiten.

In Schleswig-Holstein sollen vom 8. Juni an alle Grundschüler wieder in ihren Klassen ohne Abstandsregeln unterrichtet werden und noch vor den am 29. Juni beginnenden Sommerferien zudem alle Schüler aller Schularten zumindest tageweise zusammen kommen. Ab Mitte Juni peilt auch Sachsen-Anhalt für Grundschüler einen Betrieb in voller Klassenstärke an. In Baden-Württemberg ist das ab Ende Juni geplant.

Seit der Studie seines Berliner Kollegen Christian Drosten von der Charité sei klar, dass auch Kinder die Corona-Infektion durchmachen und auch diese Viren freisetzen, sagte Fickenscher. "Es gibt aber bisher nur wenig dokumentierte Anhaltspunkte, dass von Kindern große Ansteckungsgefährdungen bei diesem Virus ausgehen." Es sei daher schwierig zu beurteilen, welche Risiken genau bei Kontakten von Kindern mit alten Menschen oder anderen Risikopersonen bestünden.

Zu Beginn der sich rasch ausbreitenden Pandemie sei es richtig gewesen, "so vorsichtig wie möglich zu sein", sagte der Experte. Aber angesichts der aktuellen Situation sei es etwa in Schleswig-Holstein mit den niedrigen Zahlen an Neuinfektionen nicht mehr so einfach anwendbar. Es gehe jetzt um die Abwägung der Verhältnismäßigkeit von Einschränkungen und Risiken. "Wir haben in den vergangenen Wochen eine ganze Menge an Lockerungen erlebt und sind damit bisher überraschend gut gefahren."

Zugleich warnte Fickenscher vor der Illusion, das Virus werde im Sommer verschwinden. Das Grassieren der Corona-Pandemie beispielsweise in Brasilien zeige, dass hohe Temperaturen und Sonnenlicht das Virus nicht verschwinden lassen. Richtig sei allerdings, dass das Virus bei Bestrahlung mit UV-Licht inaktiv werde, also nicht mehr ansteckend sei. "Aber es gibt viel Schatten und geschlossene Räume. Aus meiner Sicht ist nicht zu erwarten, dass wir im Sommer - wie bei der saisonalen Influenza - eine Viruspause bekommen", sagte der Wissenschaftler und fügte hinzu: "Würden wir die Corona-Maßnahmen komplett aufheben, hätten wir wieder ein Aufflammen der Epidemie wie vor einigen Monaten."

Die Chancen auf ein schnelles, wirksames Medikament gegen das neuartige Coronavirus schätzt Fickenscher als gering ein. "Bisher ist Remdesivir der beste Kandidat, das aber in Deutschland noch nicht zugelassen ist und dessen Nebenwirkungspotenziale noch nicht genug bekannt sind. Derzeit sehe ich noch keine geeigneten Alternativen für die Therapie", sagte Fickenscher.

Aus der Zulassung eines rekombinanten Lebend-Impfstoffs gegen Ebola-Viren, der sogar in Deutschland produziert werde, ergebe sich eine besonders wichtige Perspektive für die Impfstoffentwicklung gegen das neuartige Coronavirus. Dabei werde eine Infektion mit vermehrungsfähigen Viren ausgelöst, die aber für Menschen ungefährlich sei - der menschliche Körper entwickle Antikörper. Die Forscher müssten in dem gegen Ebola bereits entwickelten Impfstoff nur das Antigen auswechseln, erläuterte Fickenscher. Solche rekombinanten Lebend-Impfstoffe seien bei Tieren seit Jahren Standard, beim Menschen aber noch neu.

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