Notfälle:Fakes nach Volkmarsen: Wie sich Falschnachrichten verbreiten

Notfälle
Die Unfallstelle in Volkmarsen mit dem Auto, das in einen Karnevalsumzug gefahren war. Foto: Uwe Zucchi/dpa (Foto: dpa)

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Berlin (dpa) - Am Montag reichen gerade einmal zwei Stunden, um die krudesten Falschnachrichten über den Anschlag in Volkmarsen im Netz zu verbreiten. Gegen 14.45 Uhr: Ein 29-Jähriger fährt mit seinem Auto in den Rosenmontagszug.

Gegen 17 Uhr: Es wird bekannt, dass es sich bei dem Fahrer um einen Deutschen handelt - die Hintergründe des Vorfalls sind unklar. Dazwischen: Zwei Stunden Zeit, um die sozialen Netzwerke mit ganz eigenen Theorien über Täter, Motivation oder Verantwortlichkeiten zu vergiften.

Noch während Polizei und Rettungskräfte versuchen, der Lage Herr zu werden, heißt es etwa, es handele sich bei der Tat in Volkmarsen um einen islamistischen Terroranschlag. Die nicht näher genannten Quellen dafür: "ausländische Zeitungen". Außerdem kursieren Fotos, die angeblich die spektakuläre Festnahme des Täters zeigen. Später stellt die Polizei klar, dass es sich in der Aufnahme "definitiv nicht um den Täter" handele.

Schon bei dem mutmaßlich rassistisch motivierten Anschlag in Hanau gab es wildeste Spekulationen. Dort hatte ein psychisch kranker Deutscher neun Menschen mit ausländischen Wurzeln erschossen. Doch im Netz lassen sich ganz andere Varianten finden: Die Tat habe kein Einzeltäter begangen, sondern ausländische Clans. Mal war ein Bandenkrieg für die tödlichen Schüsse verantwortlich, mal ein Geheimdienst. Alles falsch.

"Es lässt sich beobachten, dass Fake News besonders nach Krisenereignissen florieren", sagt Kommunikationswissenschaftler Tilman Klawier von der Universität Hohenheim. Er beschäftigt sich mit sogenannten alternativen Medien, die vorgeben, im Gegensatz zu etablierten Nachrichtenformaten die vermeintliche Wahrheit aufzudecken. Nach Ansicht des Experten werde gerade die unsichere Lage ausgenutzt.

"Das Bedürfnis nach Informationen ist weit verbreitet, auch unter normalen Mediennutzern", sagt die Hamburger Journalistikprofessorin Katharina Kleinen-von Königslöw. Etablierte Medien sind, um Spekulationen zu vermeiden, auf gesicherte Quellen wie etwa die Polizei angewiesen.

In der Frühphase eines Ereignisses sind die Behörden aber häufig selbst noch mitten in den Ermittlungen, oder dürfen bestimmte Angaben etwa aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht herausgeben. In solche Lücken stoßen die Verbreiter von Falschbehauptungen. "Das Informationsvakuum wird strategisch gefüllt", so Kommunikationswissenschaftlerin Kleinen-von Königslöw.

Rückblick Juli 2019: Im Frankfurter Hauptbahnhof werden ein achtjähriger Junge und seine Mutter vor einen ICE gestoßen. Im Netz taucht ein Foto und der Vorname des getöteten Kindes auf - doch: die Aufnahme geistert schon Jahre durchs Netz, der Name ist erlogen.

Aber: Es reicht, dass die Erfindung real wirkt. "Bei Fake News geht es nicht um Wahrheit, sondern um Plausibilität", sagt Literaturprofessorin Nicola Gess von der Universität Basel. Eine Falschnachricht funktioniere am besten, wenn sie den Leser emotional einbeziehe. "Sie bietet ihm eine Identifikationsmöglichkeit", erklärt Gess. Die Sprache von Fakes sei häufig mehrdeutig.

Falschnachrichten haben eine lange Haltbarkeit, selbst dann noch, wenn die Polizei weitere Informationen veröffentlicht. "In der Regel ist die Fake News interessanter als die Richtigstellung", sagt Kleinen-von Königslöw. Dabei verfangen die Lügen häufig, wenn sie die eigene Weltanschauung bestätigen. "Dann ist es auch egal, welche offiziellen Informationen herausgegeben werden", so Klawier.

Aber warum erfinden Menschen Dinge? Einerseits kann es schlicht der schnöde Mammon sein: mehr Klicks, mehr Werbeeinnahmen. Wichtiger scheint aber die politische Dimension: gezielt Stimmung machen und Feindbilder schüren. Kleinen-von Königslöw meint: Wenn viele Möglichkeiten im Raum stünden, werde die Wahrheit nebensächlich.

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