Zukunft des Internets:Freies Netz - eine Illusion

Das Twitter-Verbot des türkischen Premiers Erdoğan ist kein Ausreißer, sondern der Vorbote eines neuen digitalen Zeitalters. Das Internet wird in Ideologien zersplittern, die sich wirtschaftlich, politisch und technisch bekämpfen.

Ein Gastbeitrag von Sandro Gaycken

Das türkische Verbot von Twitter ist kein Ausreißer, sondern ein Vorbote. Ein neues digitales Zeitalter kündigt sich an. Das globale, überall gleiche, offene Internet steht vor dem Ende. Es wird durch seinen Plural ersetzt werden; es entsteht derzeit ein Mosaik unterschiedlicher Internets mit ganz eigenen Technologien, Visionen und politischen Bedeutungen.

Autoritäre und paternalistische Machthaber wie Erdoğan sind eine der Ursachen. Sie arbeiten bereits seit dem Ende des arabischen Frühlings daran, die Informationshoheit in sozialen Medien zurückzuerobern. Sie haben, auch in der Türkei, Infosöldner angeheuert, die als scheinbar unabhängige Kommentatoren massenhaft regimefreundliche Inhalte streuten. Doch diese Taktik funktioniert nur begrenzt. Zensur und Überwachung werden deshalb vielerorts die nächsten Schritte sein.

Doch auch Länder mit freiheitlichen Verfassungen wollen das Netz technisch und regulativ umbauen. Die technokratisch-naiv aus dem Ideal der Aufklärung heraus existierende Urvision des Internets, das als vollkommen unreguliertes Medium globale Basisdemokratie, Frieden und Freiheit bringen soll, lässt sich nicht mehr halten. Spätestens seit Edward Snowdens Enthüllungen ist klar: Staaten und Konzerne stellen und steuern das Internet, mit entsprechenden Interessen und Nebenwirkungen. Die Illusion der Offenheit dekoriert lediglich die harte Realpolitik.

Zersplitterung des freien Netzes in Ideologien

Vielen Netzpopulisten und IT-Lobbyisten ist das noch nicht bewusst. Mit der Naivität der Ingenieure debattieren sie noch über illusionäre Maßnahmen wie No-Spy-Abkommen und geben X-Punkte-Papiere ab, die zum verlorenen Paradies zurückführen sollen, ohne dass dafür der Kern, die Technik, angefasst werden müsste. Das ist das Hintergrundrauschen in den Feuilletons, im Streit um das "Schengen Routing" und in internationalen Diskussionen über eine "Balkanisierung" des Netzes in ein "Splinternet".

Und zunehmend wird klar, dass die neue Realität auch in den Demokratien neue Visionen braucht. Der Wandel wird kommen. Das freie Netz wird eine Utopie bleiben, es wird in Ideologien zersplittern, die stärker an Machtfraktionen, an Territorien und an deren politische und kulturelle Kontexte gebunden sind. Es ist der typische Prozess technischen Erwachsenwerdens. Zu erkennen sind fünf neue, ineinander übergehende und sich teils überschneidende Internets.

Das erste ist das Internet der Realpolitik. Hier herrschen die globale Marktwirtschaft und die Sicherheitspolitik der Großmächte. Es geht um Geld und Macht, um Marktanteile, Exporte, Standardisierungen, um Spionage, Kriegsführung und Kontrolle. Freiheit ist hier Mittel zum Konsum - oder Hindernis. Sie wird genutzt, missbraucht oder hintergangen.

Totale Kontrolle und betreute Freiheit

Das zweite ist das Internet der totalen Kontrolle. Autoritäre Regime beginnen gerade mit dieser fatalen Verwandlung. Sie stellen das Internet nicht ab, sondern isolieren es und nutzen es dann, um Propaganda und Desinformation abzusondern; sie nutzen es auch, um Oppositionelle zu isolieren, zu diffamieren, zu vernichten. Das Potenzial der Freiheit wird - ohne großen Aufwand - in sein totales Gegenteil verkehrt. Das Internet birgt auch die Unmöglichkeit der Freiheit. Iran und Syrien sind zwei Beispiele dieser Variante.

Das dritte ist das Internet der betreuten Freiheit. Die Priorität liegt auf der Kontrolle des Netzes durch Beobachtung und Beeinflussung. Das Ausmaß dieser Betreuung ist unterschiedlich und bezieht sich meist auf bestimmte Themenkreise, Formen und Inhalte. Russland, China und jetzt auch die Türkei sind Vertreter dieser Variante. Sie wollen der Freiheit des Netzes nicht völlig im Wege stehen, um es sich nicht mit dem Westen zu verscherzen und um die wirtschaftlichen Vorteile zu nutzen. Sie fürchten aber immer auch um die Stabilität ihrer Herrschaft.

Das vierte Internet ist das Internet der natürlichen Freiheit. Es lebt in der alten, anarchistischen Vision: Marktmacht und Politik werden draußen gehalten. Diese Version existiert - außerhalb der Köpfe der Utopisten - tatsächlich noch in kleinen Netzkommunen. Viele von ihnen haben sich umständlich isoliert und abgeschottet. Allerdings ist diese Welt jenseits der Expertenkreise politisch unwirksam; die Masse der Laien unter den Usern ist hier schlicht ausgeschlossen.

Standardmodus Freiheit

Das fünfte und letzte ist das Internet der echten Freiheit. Hier werden Freiheit für Markt und Individuum priorisiert. Im Gegensatz zum Internet der betreuten Freiheit muss Freiheit nicht gerechtfertigt und gestattet werden, sie ist der "default mode", der Standardmodus. Sie wird aber durch Institutionen und Rechte garantiert und dann eingeschränkt, wenn Freiheiten im Konflikt zueinander stehen. Aufgrund verschiedener Freiheitsverständnisse werden sich verschiedene Subkulturen entwickeln.

Die USA werden die "Freedom of Speech" höher werten als die Privatheit, Europa wird menschenverachtende Inhalte nicht zulassen, dafür die Überwachung streng eingrenzen. Immer aber wird es um die Garantie, den Erhalt und den Ausbau von Freiheit gehen, nicht um ihren Missbrauch, um Zensur oder väterliche Aufsicht.

Diese fünf Versionen werden die Zukunft des Netzes sein. Sie werden sich wirtschaftlich, technisch und politisch bekämpfen. Und sie müssen sich extern wie intern auf Wirtschaftlichkeit, politische und moralische Akzeptanz und Akzeptabilität und Stabilität prüfen lassen.

Alternative zum Internet der Unfreiheit

Ein erster Kampf lässt sich bei der Diskussion um technische Souveränität und europäisches Routing erkennen. Beides sind Ideen, die politische Selbstbestimmung gegen globale Internet-Realpolitik und gegen die Anarchie der natürlichen Freiheit herstellen wollen, aus Marktinteressen, aber auch aus der Idee der echten Freiheit heraus. Und beide werden bereits von Konter-Ideologien bekämpft, von den Realpolitikern und den Vertretern der natürlichen Freiheit, die beide einen Bruch der "Natürlichkeit" des Netzes beklagen.

Der Wandel ist nicht pauschal zu bewerten. Das Internet der totalen Kontrolle wird eine Katastrophe, das Internet der betreuten Freiheit wird schlecht. Aber diese Veränderungen sind Realität; sie lassen sich benennen, anprangern, kritisieren - immerhin. In jenen Ländern dagegen, die Realpolitik, das Recht des Stärkeren und Kontrollwahn nicht akzeptieren wollen, wird das Zersplittern des alten Netzes gut und gesund sein.

Die Konkurrenz der Netze kann bessere Varianten freiheitlicher Technologie und digitaler Öffentlichkeit hervorbringen. Sie kann das Netz, das sich zur Zeit noch im Stadium der Unreife befindet, zur Reife verhelfen - und so eine Alternative sein zu den Internets der Unfreiheit.

Der studierte Philosoph und einstige Aktivist im Chaos Computer Club Sandro Gaycken, 40, ist Technik- und Sicherheitsforscher an der Freien Universität Berlin. Er berät zahlreiche Firmen und Institutionen.

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