Süddeutsche Zeitung

Zehn Jahre Spotify:"Es gibt keine Intros mehr"

Der Streaming-Dienst Spotify wird zehn Jahre alt. Im Interview erklärt Musikwissenschaftler Hubert Léveillé Gauvin, wie sehr das die Popmusik verändert hat.

Interview von Hakan Tanriverdi

Der in Kanada lebende Musikwissenschaftler Hubert Léveillé Gauvin hat sich die Top-Hits der US-Charts der vergangenen Jahrzehnte sehr genau angehört. In einer Studie hat er untersucht, wie sehr sich die Songs in ihrem Aufbau in den vergangenen Jahren verändert haben. Derzeit schreibt er an der Ohio State University an seiner Doktorarbeit

Gauvins Erkenntnis: Vor allem Streaming-Dienste wie Spotify haben dazu beigetragen, dass Lieder sich verändert haben - sie verplempern zum Beispiel nicht mehr allzu viele Takte für die Einleitung.

SZ: Herr Gauvin, warum haben Sie die Hits der vergangenen 30 Jahre analysiert?

Hubert Léveillé Gauvin: Wir leben in einer Welt, in der Aufmerksamkeit ein rares Gut ist. Auch in der Musik: Es gibt mittlerweile ein unendlich großes Angebot an Songs, die wir jederzeit hören können.

Wir können die Lieder nicht nur jederzeit hören, wir können sie auch jederzeit überspringen.

Genau. Früher zahlte man Geld, um ein Album zu kaufen, das aus zwölf Songs bestand. Das Überspringen einzelner Lieder war schon deshalb schlecht, weil weniger zum Hören übrig blieben. Heute haben wir dieses Problem nicht mehr. Ich wollte wissen, ob die Songs dadurch schneller auf den Punkt kommen.

Was genau meinen Sie damit?

Wenn man als Künstler weiß, dass die Menschen Lieder einfach überspringen können, bauen sie ihre Songs dann anders auf? Also habe ich 300 Lieder analysiert, die alle zwischen 1986 und 2016 in den Top-Ten der Billboard-Jahrescharts waren.

Was haben Sie herausgefunden?

Den Liedern ist deutlich anzumerken, dass sie viel schneller beginnen. Es gibt praktisch keine Intros mehr. In den 1980er Jahren dauerte es im Durchschnitt 23 Sekunden, bis der Song wirklich begann. Heute sind wir bei fünf Sekunden angekommen. Man hat gewaltig gekürzt.

Haben Sie Beispiele dafür?

Nehmen Sie "How will I know" von Whitney Houston. Es dauert ganze 40 Sekunden, bis sie das erste Mal singt. Der Refrain beginnt erst nach 73 Sekunden. "Happy" von Pharell Williams, beginnt nach sage und schreibe zwei Sekunden mit dem Gesang, der Refrain kommt nach 25 Sekunden. Das sind jetzt extreme Beispiele, aber sie zeigen gut, in welche Richtung sich die Kompositionen entwickelt haben.

Daran sind Streaming-Dienste wie Spotify schuld?

Sie sind auf alle Fälle ein wesentlicher Faktor. Es ist zwar auch möglich, große Hits zu haben, die aus diesem Muster ausbrechen. Denken Sie nur an Gotye und "Somebody that I Used to Know". Aber ich würde schon sagen, dass Künstler ihre Songs mittlerweile eher dafür verwenden, um Werbung für sich selbst zu betreiben.

Wie bedeutet das?

Spotify bringt den Künstlern so gut wie kein Geld. Was sie bekommen, ist Aufmerksamkeit. Das ist Zeit, die sie nutzen können, um für sich selbst Werbung zu machen, damit die Leute zum Beispiel auf ihre Konzerte kommen. Damit verdienen sie Geld. Musik war immer schon selbstbezogen, aber das Umfeld heutzutage ist viel kompetitiver. Musik ist mehr denn je auf Promotion ausgerichtet.

Das klingt traurig.

Das sehe ich anders. Wir wissen zum Beispiel, dass der Einsatz der Gitarre als Band-Instrument dazu führte, dass Musik anders komponiert wurde. Damals beschwerte sich auch niemand, dass die Vielfalt in der Musik abnimmt, weil das Klavier nicht mehr verwendet wird. Menschen sind einfach nostalgisch.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4155727
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de/mri/sks
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.