Süddeutsche Zeitung

Youtube wird zehn:Masse und Macht

  • Als Youtube im Februar 2005 startete, war kaum abzusehen, welche Auswirkungen die bloße Existenz von Videos im Netz haben würde.
  • Das Portal war schneller als die Konkurrenz und hat das Prinzip einfacher Bedienung perfektioniert. Zwei Zentrale Faktioren für den Erfolg.
  • Binnen zehn Jahren ist Youtube zu größten Videoarchiv geworden, das es jemals gab. Unvorhersehbar, welcher Nutzen in der Zukunft aus der Datenmenge noch zu ziehen sein wird.

Von Johannes Boie

Videos hochladen. Videos angucken. Zwei Funktionen, und die Welt ändert sich für immer. Das ist, zusammengefasst, die Geschichte von Youtube.

Alles begann mit Jawed Karim vor einem Elefantengehege. Karim war damals 26 Jahre alt, und alles, was er zu den Elefanten zu sagen hatte, war, dass sie "wirklich lange Rüssel" hatten. Es fiel ihm dann aber doch noch etwas anderes ein. Zum Beispiel die Idee, die 19 Sekunden lange Aufnahme am Samstag, dem 23. April 2005, um 20.27 Uhr auf Youtube hochzuladen.

"Me at the zoo" war das erste Video, das je auf der Webseite veröffentlicht wurde. Karim hatte Youtube damals gerade gegründet, zusammen mit seinen Kumpels Chad Hurley und Steve Chen. Die Idee wurde angeblich nach einer Dinnerparty geboren - die Freunde hatten sich geärgert, dass es so schwierig war, Videos zu teilen.

Geld kostet das Hochladen nicht, nur dann und wann die eigene Würde

Chen und Karim sind Einwanderer, die erst als Kinder mit ihren Familien in die USA zogen. Karim lebte vorher in Deutschland. Sein Vater stammt aus Bangladesch. Es waren nicht zuletzt die Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen im Sommer 1992, die seine Eltern darin bestärkten, Deutschland zu verlassen. Die drei Gründer lernten sich bei Paypal kennen, einem der erfolgreichsten Start-ups des neuen Jahrtausends. Paypal verlegt seit seiner Gründung 1998 den Zahlungsverkehr zwischen Banken und Privatpersonen ins Internet. Die Firma ist eine Art kalifornische Kaderschmiede. Wer "Paypal" im Lebenslauf stehen hat, kann oft bald schon die Position "Gründer" hinzufügen.

2004, ein Jahr vor dem Start von Youtube, war die Seite Flickr online gegangen, die eine Variante von Youtube ist, nur für Bilder anstelle von Videos. Der Plan der drei Gründer, Youtube zu erschaffen, war also mehr logische Konsequenz als eine wirklich erstaunliche Idee. Der Erfolg der Seite gründete sich damals vor allem auf zwei Faktoren. Erstens war Youtube schneller als die Konkurrenz. Natürlich gab es 2005 schon an anderen Orten im Netz Videos. Aber eine Stelle, an der alle Videos der Welt gratis gesammelt würden, das war für die Nutzer eine neue Idee.

Zweitens hat Youtube, wie die meisten erfolgreichen Start-ups, das Prinzip einfacher Bedienung perfektioniert. Ein Video ins Internet zu laden, war bis zur Gründung von Youtube oft eine komplizierte Angelegenheit, voll von FTP-Verbindungen und Abstürzen und anderen Dingen, mit denen sich ein normaler Mensch nicht befassen möchte. Auf Youtube war das Hochladen eines Videos von Anfang an nicht komplizierter als die Bedienung der Google-Suchmaske. Deswegen stieg die Zahl der veröffentlichten Videos schon wenige Tage nach dem Elefantenrüssel-Clip steil an.

Nach ein paar Monaten jubelten die Gründer: Von ihrer Seite werde monatlich so viel Videomaterial abgerufen, wie man in einer Filiale der damals in den USA populären Videokette Blockbuster finden konnte. Die Kette hatte erst ein Jahr zuvor einen neuen Höhepunkt erreicht mit 60 000 Angestellten und 9000 Geschäften.

Fünf Jahre später meldete Blockbuster Konkurs an.

Die Nutzerzahl von Youtube peilte hingegen die Marke von einer Milliarde an, die sie heute überschritten hat. Bereits 2006, ein gutes Jahr nach der Gründung, übernahm Google die Seite von den drei Gründern. Kaufpreis: 1,31 Milliarden Euro. Die Gründer machten weiter. Hurley verantwortete das Webdesign, Steve Chen kümmerte sich um die Technik. Nur Karim war noch während der Wachstumsphase ausgestiegen, um zu studieren. Er hielt aber dennoch genügend Anteile, um beim Verkauf 60 Millionen Dollar zu kassieren.

Heute lädt ein Teil der Youtube-Nutzer jede Minute 300 Stunden Videomaterial auf Youtube hoch. Jeden Tag sehen sich weltweit Menschen Hunderte Millionen Stunden an Videomaterial auf Youtube an. Die kleinen Zähler, die anzeigen, wie oft ein Video angeschaut wurde, steigen alle zusammen pro Tag um mehrere Milliarden Views nach oben. Und das alles ist gratis - abgesehen von der eigenen Würde, mit der viele Menschen ihre Zurschaustellung auf Youtube schon bezahlt haben.

Sanfte Ermahnung für die Werbebranche

Youtube entwickelt sich unterdessen immer weiter. Innovationen werden implementiert. Ein Beispiel ist die Funktion, die es auf Youtube erlaubt, Werbespots nach ein paar Sekunden abzubrechen. Die Idee muss jedem, der ans Fernsehen und ans Geldverdienen denkt, wie ein schlechter Scherz vorkommen, aber die Nutzer lieben sie. Deshalb bleiben sie Youtube treu, trotz Werbung (an der auch Youtube verdient). Gleichzeitig werden die Werbenden sanft ermahnt: Macht Clips, die sich die Leute freiwillig bis zum Ende anschauen. Und die Werbebranche wandelt sich, denn eine ernsthafte Alternative zu Youtube konnte sich in all den Jahren nie entwickeln.

In ein paar Nischen gibt es zwar Konkurrenz, sogar solche, die technisch zum Teil besser ist, wie etwa Vimeo. Doch gegen die schiere Masse der Videos wird auf lange Sicht kein Wettbewerber ankommen. Dabei ist Youtube nicht nur eine Videoplattform. Die Seite ist auch, was oft vergessen wird, nach Facebook das zweitgrößte soziale Netzwerk der Welt. Weder Twitter noch Google Plus erreichen annähernd die Größe von Youtube. Die Nutzer kommen nicht nur, um Videos anzuschauen. Sie kommunizieren miteinander, oft genug mit Videos, noch häufiger aber in den Kommentaren dazu. Für die Mutterfirma Google, die aus Kommunikationsdaten Geld macht, ist das besonders wichtig.

Ein Bildergedächtnis von Vergangenheit und Gegenwart

All das, was auf Youtube existiert, ist für immer gespeichert. Der einzelne Nutzer mag dann und wann ein Video löschen, aber die Masse der Videos an sich wächst und wächst und wächst. Youtube ist deshalb auch das größte Videoarchiv, das es jemals gab und damit ein Bildergedächtnis von Vergangenheit und Gegenwart. Es ist unermesslich, wie viel Kulturgut hier gespeichert ist, und es lässt sich heute noch nicht absehen, welcher Nutzen in der Zukunft aus der Datenmenge noch zu ziehen sein wird. Algorithmen, die die einzelnen Bilder der Videos durchsuchen, gibt es bereits. Irgendwann wird man daran arbeiten können, Videos nach den Bestandteilen ihrer Aufnahmen zu ordnen; dann werden ganz neue Zusammenhänge und Abhängigkeiten sichtbar werden.

Auf Youtube ist fast alles zu sehen, was es zu sehen gibt. Menschen werden geboren, Menschen sterben, zwischendrin stellen sie eine Menge Dinge an. Und von allem, dessen Darstellung nicht - wie Sex - amerikanischer Moral oder, weniger wichtig, geltenden Gesetzen widersprechen würde, gibt es Aufnahmen. Gemäß dem ersten Youtube-Motto: "Broadcast Yourself" - versende dich selbst. Werde Teil der digitalen Kultur. Jeder hofft hier auf Publikum, und Youtube gibt allen Grund zur Hoffnung. Die Plattform ist eine demokratisierte Abspielfläche. Nur das technische Format des Videos klammert die Inhalte zusammen. Eine rare Schwarz-Weiß-Aufnahme von Gottfried Benn steht neben Waschmittelwerbung. Alles ist möglich, auch die absurdesten Karrieren. Hier kann die nach klassischen Kriterien unwichtigste Aufnahme den größten Ruhm erlangen. In der alten Welt lief es andersrum: Professionell gemachte Videos erhielten die meisten Zuschauer.

Als Youtube online ging, war kaum abzusehen, welche Auswirkungen die bloße Existenz von Videos im Netz haben würde. Ganze Branchen brechen zusammen, auch jenseits der Blockbuster-Videokette. Das Ende des Musikfernsehens hat das rote Logo mit dem Abspielbutton ebenso besiegelt wie die Bedrohung unzähliger anderer Branchen, weil in Videos schlicht erklärt wird, was bislang als Expertenwissen teuer bezahlt werden musste. Wie schließe ich eine Waschmaschine an? Wie lerne ich Japanisch? Wie berechne ich ein Marketingbudget? Die Kategorien "How to" und "Bildung" liegen bei Erwachsenen noch vor Musikvideos (aber hinter "Humor") auf Platz zwei. Youtube versteht sich auch durchaus als Konkurrenz zur traditionellen Filmindustrie. In Los Angeles, Tokio, London, New York und São Paulo hat die Firma schon Studios aufgebaut.

Gleichzeitig globalisiert Youtube den Mainstream. Über all den Videos schwebt der Rapper Psy. Das Musikvideo seines Hits "Gangnam Style" wurde 2,2 Milliarden Mal angesehen, mehr als jedes andere Video jemals. Youtube ist damit auch ein technisch genauer Gradmesser dessen, was auf der Welt gerade beliebt ist oder worüber die Welt gerade streitet.

Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln

Sogar Krieg wird auf Youtube mit anderen Mitteln fortgesetzt. Videos sämtlicher kämpfenden Parteien aller globalen Konflikte sind auf der Plattform zu finden. Grausamkeiten wie Hinrichtungsvideos des sogenannten Islamischen Staats löscht Youtube zwar in der Regel. Die unzähligen Propagandavideos und verschwörungstheoretischen Filme aber sind meistens vom amerikanischen Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt und bleiben online.

Eine Gegenöffentlichkeit, Bürgerjournalisten, ergänzen den klassischen Journalismus. Was ist eine Agenturmeldung über die Notlandung eines Flugzeugs im Vergleich zum Video aus dem Inneren des Flugzeugs? Dabei entstehen Hybride aller Art - Propaganda, die sich als Amateurvideo tarnt, die politische Fortsetzung der Werbung, die sich als Produkttest tarnt.

Dabei wirft die Webseite große rechtliche Fragen auf. Während die Kulturproduktion sich auf einen vereinheitlichten, globalen Markt einstellt, reichen traditionelles Urheber- und Lizenzrecht nicht mehr aus. Wer verdient mit welchem Video Geld? Wie findet die Lizenzierung statt? Was ist mit der Hintergrundmusik? Wie wird die rechtliche Situation einer der vielen Aufnahmen, die auf Youtube hochgeladen werden, überhaupt geprüft? Und je nach Land gelten auch noch andere Regeln. In Deutschland etwa schwelt schon ewig der Streit mit der Verwertungsgesellschaft Gema - das ist der Grund, warum hier viele Videos gesperrt sind.

Youtube macht, was die Firma schon immer gemacht hat. Sie nutzt die Verwirrung und entwickelt clevere Werkzeuge, die es zumindest technisch möglich machen, dass alle Berechtigten an einem Video mitverdienen, ein Geschäftsmodell mit Geschäftsmodellen. Aber allem zugrunde liegt nur diese Idee: Videos hochladen. Videos angucken. So simpel, so mächtig. "Me at the zoo" wurde bis Freitagabend übrigens schon 17 427 247 Mal angesehen.

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Quelle:
SZ vom 14.02.2015/luk
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