Wikipedia:"Wir arbeiten hier mit Netz und doppeltem Boden"

Was darf rein, was muss raus? Wikipedia-Administrator Kurt Janson über die Kriterien der Online-Enzyklopädie.

Nikolas Westerhoff

Die Online-Enzyklopädie Wikipedia hat bei einem Vergleichstest von 50 Artikeln besser abgeschnitten als das Nachschlagewerk Brockhaus. Kurt Janson, Soziologie-Student in Berlin, ist Vorsitzender des gemeinnützigen Vereins Wikimedia Deutschland - Gesellschaft zur Förderung Freien Wissens, einer Schwesterorganisation der amerikanischen Wikimedia Foundation, welche die Wikipedia betreibt. Er ist außerdem einer der etwa 180 Wikipedia-Administratoren der deutschen Ausgabe mit der Lizenz zum Löschen von Einträgen.

Wikipedia: Kurt Janson, Vorsitzender des gemeinnützigen Vereins Wikimedia Deutschland

Kurt Janson, Vorsitzender des gemeinnützigen Vereins Wikimedia Deutschland

(Foto: Foto: oH)

SZ: Warum ist Wikipedia so erfolgreich?

Kurt Janson: Der Spaß am Umgang mit Wissen und am Austausch mit anderen Autoren ist die eigentliche Basis des Erfolgs. Die Qualität der einzelnen Artikel steigt durch die gegenseitige Verbesserung und Kontrolle.

SZ: Wie viele Beiträge kommen täglich hinzu, wie viele werden gelöscht?

Janson: Etwa 500 Artikel kommen Tag für Tag hinzu, knapp 100 Artikel werden von Autoren zur Löschung vorgeschlagen. Nach einer einwöchigen Diskussion werden von diesen 100 zwei Drittel tatsächlich entfernt.

SZ: Warum?

Janson: Gründe sind meist die mangelnde Relevanz und die ungenügende Qualität eines Eintrags.

SZ: Was sind dabei Ihre Kriterien?

Janson: Wichtige Bücher, Vereine oder Gerichte haben in der Wikipedia ihren Platz; Bibliographien, Vereinsregister und Kochbücher wird eine Enzyklopädie jedoch nie ersetzen können. Im Lauf der Zeit hat die Community einen umfangreichen Katalog entwickelt, der hilft, die Relevanz einzelner Gegenstände, Themen und Personen einzuschätzen. Dieser liefert zum einen Anhaltspunkte, wann ein Artikel wegen fehlender Wichtigkeit wieder aus der Enzyklopädie entfernt werden kann; andererseits hilft er vor allem neuen Autoren zu beurteilen, wann es sich überhaupt lohnt, ein bestimmtes Thema enzyklopädisch aufzubereiten.

SZ: Eine Löschregel lautet: Keine Theorienfindung. Was ist damit gemeint?

Janson: Enzyklopädien sind ihrem Wesen nach konservative Werke, da sie immer nur etabliertes, gesichertes Wissen wiedergeben - Wikipedia ist hier keine Ausnahme. Dieser Grundsatz soll verhindern, dass Wikipedia als Plattform für private Theorien missbraucht wird. Für die private Deutung der Relativitätstheorie oder die eigenen Überlegungen zu den Anschlägen auf das World Trade Center gibt es im Internet genügend andere Möglichkeiten zur Veröffentlichung.

SZ: Ein so dynamisches System wie Wikipedia lässt nur gesichertes Wissen zu? Die Community der Wikipedia-Autoren scheint konservativ zu sein.

Janson: Wenn es um die wissenschaftlichen Standards unserer Arbeit geht, werden wir mit zunehmendem Alter tatsächlich immer konservativer. Ansonsten kann ich aber versichern, dass die Autoren in weltanschaulichen und politischen Fragen eine äußerst heterogene Gemeinschaft sind - was wiederum zur Attraktivität der Plattform beiträgt.

SZ: Eigentlich hätte Wikipedia doch beliebig viel Platz. Warum wollen Sie dennoch zwischen relevant und irrelevant unterscheiden?

Janson: Zum einen ist es ein Mittel, um Themen auszusieben, über die sich keine verlässlichen Quellen finden lassen. Meine Eltern haben in ihrem Leben viel erlebt und Tolles geleistet, trotzdem wird es vermutlich nie einen Enzyklopädie-Artikel über sie geben, weil dieser sich zum Beispiel nicht auf eine Biographie stützen könnte. Zum anderen sind wir, trotz der fast 1000 Personen starken deutschsprachigen Kern-Community, nicht in der Lage, unendlich viele Artikel zu verwalten. Die mehr als zehn Millionen biologischen Arten, die irgendwann auch Wikipedia bevölkern könnten, vom Axolotl bis zum Zebrabärbling, machen mir schon genügend Sorgen - zum Glück sind die meisten von ihnen noch nicht entdeckt.

"Wir arbeiten hier mit Netz und doppeltem Boden"

SZ: Führen nicht manche Wikipedia-Autoren selbst den Relevanzbegriff ad absurdum? Ein Beitrag über ein westfälisches Dorf ist beispielsweise genauso lang wie der Beitrag zum Thema Holocaust.

Janson: Ich sehe hier keinen Widerspruch. Ist ein Artikel erst einmal aufgenommen, darf er so viel Platz in Anspruch nehmen, wie für eine angemessene Darstellung notwendig. Hier können wir unseren Vorteil ausspielen, keiner physischen Platzbeschränkung zu unterliegen und immer wieder auch Textteile in speziellere Artikel auslagern zu können.

SZ: Wikipedia schneidet sehr gut bei naturwissenschaftlichem Wissen ab. Hunderte Biologie-Artikel wurden bereits mit dem Prädikat "exzellent" ausgezeichnet. Bei einem Wissensfeld wie Psychologie sind es bisher nur fünf. Ist geistes- und sozialwissenschaftliches Wissen nicht prämierungswürdig?

Janson: Würdig ganz sicher, aber leider noch nicht in ausreichendem Maße vorhanden. Gerade in diesen Bereichen sind wir verstärkt auf der Suche nach neuen Autoren. Ihre Leuchtturmartikel ziehen aller Erfahrung nach dann weitere Experten an, so dass ein sich selbst verstärkender Kreislauf in Gang gesetzt wird. Der Biologie-Bereich hat dies exemplarisch vorgemacht.

SZ: Löschen Administratoren mehr geisteswissenschaftliches Wissen, weil es ihnen weniger gesichert erscheint?

Janson: Das glaube ich nicht. Aber natürlich ist es in den Geisteswissenschaften manchmal schwerer auszumachen, welches die vorherrschenden Paradigmen sind oder welches Wissen eines Orchideenfachs schon als etabliert bezeichnet werden darf.

SZ: Sie haben als Administrator pauschale Löschrechte. Innerhalb von zwei Minuten können Sie die monatelange Arbeit von Autoren vernichten. Ist Ihr Status ausreichend legitimiert?

Janson: Ein Administrator wird einen längeren Text niemals ohne vorhergehende Diskussion mit der übrigen Community entfernen. In den meisten Fällen wird die Wochenfrist, nachdem ein Artikel zur Löschung vorgeschlagen wurde, hierfür voll ausgeschöpft. Ist jemand mit dem Fazit, das ein Administrator aus der Diskussion gezogen hat, nicht einverstanden, kann dies auf einer weiteren Seite nochmals öffentlich zur Diskussion gebracht werden. Wir arbeiten hier mit Netz und doppeltem Boden, auch wenn Entscheidungen im Einzelfall sicher immer diskutabel sind.

SZ: Wikipedia gilt manch einem als Positivbeispiel für einen herrschaftsfreien Diskurs. Ist das nicht ein großer Selbstbetrug, wenn 180 Administratoren darüber befinden, was als enzyklopädisches Wissen überlebt und was nicht?

Janson: Die Administratoren sind in den meisten Fällen eher ausführendes Organ, das eine offene Diskussion der Community um die Löschung eines Artikels neutral auswertet. Grundsätzlich wird diese Entscheidung immer von einem Administrator getroffen, der an der vorausgehenden Debatte unbeteiligt war. So mutig, allen Teilnehmern das Recht zur Löschung von Artikeln zu geben, sind selbst wir noch nicht gewesen. Aber davon abgesehen: Sieht man sich die zigtausend Diskussionsbeiträge an, die jeden Tag zu den verschiedensten Themen in Wikipedia veröffentlicht werden, dann kann Wikipedia durchaus als Modell eines anderen, offeneren Wissensdiskurses gelten.

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