Web-Lexikon "Hamichlol":Wie Wikipedia, nur ohne Frauen und Evolution

hamichlol

Screenshot der Startseite von Hamichlol

(Foto: Screenshot)
  • Das Projekt "Hamichlol" (Gesamtheit) nutzt die Wiki-Technologie, um eine Enzyklopädie zu schaffen, die sich "mit der Thora, jüdischen Werten und der Geschichte des jüdischen Volkes beschäftigt".
  • Aber was mit der Sicht von ultraorthodoxen Juden nicht zu hundert Prozent in Einklang steht, wird umgeschrieben oder weggelassen.
  • So entsteht eine virtuelle Parallelwelt, die den Transparenz-Prinzipien von Wikipedia ebenso widerspricht wie den Werten der Aufkärung.

Von Alexandra Föderl-Schmid, Tel Aviv

Die ultraorthodoxen Juden in Israel sind eine stark wachsende Bevölkerungsgruppe, ihr Einfluss nimmt zu. Mehr als eine Million Menschen gehören zu den Charedim, sie leben in dem Land mit acht Millionen Einwohnern nach streng religiösen Gesetzen. Zwei Drittel der Charedim-Männer gehen keiner Arbeit nach, sondern widmen sich dem Studium religiöser Schriften. Den Staat Israel lehnen sie ab, an der Regierung beteiligen sich zwei ihrer Parteien trotzdem.

Erst vor wenigen Tagen wurde die jüngste Regierungskrise gelöst, die - wieder einmal - von der Partei Vereinigtes Thora-Judentum ausgelöst worden war. Diesmal ging es um ein Gesetz zur Befreiung ultraorthodoxer Männer vom Wehrdienst. Einige Wochen zuvor hatte die Forderung der Partei nach einem Verbot von Arbeiten am Eisenbahnnetz am Sabbat die Regierung fast zum Scheitern gebracht.

In die abgeschottete Gemeinschaft der Charedim dringt nun aber auch Neuzeitliches vor: das Internet. Um dem zu begegnen, bauen die Ultraorthodoxen nun eine Art "koscheres" Wikipedia auf, das ihre Weltsicht zeigt - und in Israel Aufsehen erregt. Initiator ist ein junger chassidischer Rabbi, für das Projekt "Hamichlol" (Gesamtheit) nutzen die Betreiber die Wiki-Technologie. Ihr Ziel ist es, "die größte jüdische Enzyklopädie" zu schaffen mit Einträgen, die sich "mit der Thora, jüdischen Werten und der Geschichte des jüdischen Volkes beschäftigen". Es sollen Beiträge "aus allen säkularen Feldern" übernommen werden, aber "in sauberer Sprache geschrieben, die mit der jüdischen Weltsicht übereinstimmt".

Drei Ministerinnen wegretuschiert

Von der hebräischen Version des Online-Lexikons wurden Zehntausende Einträge übernommen. Was mit der Sicht der Charedim aber nicht zu hundert Prozent in Einklang steht, wird umgeschrieben oder weggelassen. Das geht so weit, dass auf dem Foto, das den Eintrag zur aktuellen israelischen Regierung illustriert, die drei Ministerinnen des Kabinetts wegretuschiert wurden. Denn nach Meinung der ultraorthodoxen Juden sind Abbildungen von Frauen in der Öffentlichkeit verboten. Auf öffentlichen Plakaten werden deshalb auch immer häufiger die Gesichter von Frauen unkenntlich gemacht.

Da die Charedim auch wissenschaftliche Erkenntnisse wie die Evolution negieren, kommt dieses Wort in der ultraorthodoxen Wikipedia-Variante einfach nicht vor. Da die Charedim eigene Zeitvorstellungen haben und auf die Ankunft des Messias warten, werden Jahreszahlen nicht übernommen.

Auf diese Weise entsteht eine virtuelle Parallelwelt, die den Transparenz-Prinzipien von Wikipedia ebenso widerspricht wie den Werten der Aufklärung. Die Autoren der hebräischen Wikipedia-Version sind über die ultraorthodoxe Variante nicht glücklich, sie beklagen einen Missbrauch. Rechtlich gegen den Ableger vorgehen können sie aber nicht. Denn Wikipedia ist ein Open-Source-Projekt, die Inhalte stehen unter Lizenzen, die frei genutzt werden dürfen. Es gibt daher keine Urheberrechte. Das Wikipedia-Prinzip sieht jedoch auch vor, dass jeder als Autor mitmachen kann. Die ultraorthodoxen Ansichten dürften deshalb auf Dauer nicht unwidersprochen stehen bleiben.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: