Wikimedia-Stiftung:Wie sich die Wikipedia-Gemeinschaft öffentlich zerfleischt

Wikipedia

Ein Bild aus besseren Zeiten: 2012 ging die Wikipedia für einen Tag offline, um gegen einen umstrittenen US-Gesetzentwurf zu protestieren - mit Erfolg.

(Foto: AFP)
  • Die Geschäftsführerin der Wikimedia, der Stiftung hinter der Wikipedia, ist zurückgetreten.
  • Ihr Rücktritt ist der Höhepunkt einer Krise bei Wikimedia, die in den vergangenen Tagen eskaliert ist. Mitschreibende und Mitarbeiter hatten den Rücktritt gefordert.
  • Auslöser war ein Streit um ein verkorkstes Suchprojekt, doch die Probleme sind grundlegender.

Von Jessica Binsch, Berlin

Die E-Mail kam am Donnerstagabend. Sie habe ihren Rücktritt eingereicht, schreibt Lila Tretikov, Geschäftsführerin der Wikimedia-Stiftung. Die Stiftung steht hinter der Online-Enzyklopädie Wikipedia und vielen anderen Wiki-Projekten. Tretikov steuerte eines der erfolgreichsten Freiwilligen-Projekte des Webs.

Tretikovs Abgang ist der Tiefpunkt eines monatelangen Streits der Wikimedia-Gemeinschaft, die nun ohne Führung dasteht. Den unmittelbaren Auslöser lieferte ein umstrittenes Suchprojekt, doch die Probleme liegen tiefer: Die Wikipedia steckt in einer Identitätskrise.

Wenige Freiwillige, miese Stimmung

Immer weniger neue Editoren stoßen zur Wikipedia. In Deutschland schreiben gerade einmal 6 000 Menschen aktiv an dem Nachschlagewerk im Netz mit. Hinzu kommt, dass ein Großteil der Wikipedianer und die Stiftungsleitung um Tretikov grundsätzlich unterschiedliche Ansichten haben, wie sich die Wikipedia entwickeln soll.

Viele Freiwillige sehen die Wikipedia als Bildungsprojekt. Tretikov dagegen wollte die Wikimedia-Stiftung zu einer "High-Tech-NGO" machen und Geld vor allem in Technologie stecken. Etlichen Wikipedianern geht das gegen den Strich. Sie sind sauer, dass derart wichtige Veränderungen ohne Diskussion mit der Gemeinschaft durchgesetzt werden sollen.

Die "Knowledge Engine" verärgerte die Basis

In diese schlechte Stimmung platzte Mitte Februar die Nachricht über ein Projekt namens "Knowledge Engine". Die Wikimedia-Stiftung wollte scheinbar eine Suchmaschine bauen. Ein Spendenantrag beschreibt das Projekt als "System, um belastbare und vertrauenswürdige Informationen im öffentlichen Internet zu finden".

Das klingt im ersten Moment nach einem Google-Konkurrenten - das wäre ein bemerkenswerter Schritt für ein Online-Lexikon, dessen Kernkompetenzen eigentlich woanders liegen. Der Spendenantrag für das Projekt stammt aus dem September 2015, er trägt die Unterschrift der damaligen Geschäftsführerin Tretikov.

Öffentlich bekannt wurden die Pläne erst Mitte Februar. Bei den Wikipedianern, denen Transparenz besonders wichtig ist, kam das schlecht an. "Jede kleine Änderung auf Wikipedia ist dauerhaft nachvollziehbar, aber so große Projekte werden im stillen Kämmerlein geplant", sagt Leonhard Dobusch, Professor für Organisationstheorie an der Universität Innsbruck, der die Wikipedia-Gemeinschaft schon lange beobachtet.

"Wir konkurrieren nicht mit Google"

Die Wikimedia-Führung bemühte sich noch, die Wogen rund um die Knowledge Engine zu glätten. "Wir bauen keine weltweite Suchmaschine", beschwichtigte Tretikov. "Entgegen der Schlagzeilen versuchen wir nicht, mit anderen Plattformen wie Google zu konkurrieren." Es gehe allein um die Verbesserung der internen Suchfunktion - also um bessere Ergebnisse für Nutzer, die auf der Wikipedia-Webseite nach Informationen suchen. Das wäre mehrere Nummern kleiner als ein universales Suchprojekt.

Doch der Beruhigungsversuch schlug fehl. Das Projekt werde öffentlich kleingeredet, schreibt ein ehemaliges Mitglied des Stiftungsrates, James Heilman. Im Stiftungsrat habe das Projekt als "Moon Shot" gegolten, als risikoreiches, großes Unterfangen. Heilman selbst warnte schon im Oktober davor, die Pläne unter der Decke zu halten. "Das hat das Potenzial, die Beziehung zwischen der Wikimedia-Stiftung und der Community zu verschlechtern", schrieb er dem Rest des Stiftungsrats. Im Nachhinein klingt es wie ein Orakel. Wenige Monate wurde er von den anderen Mitgliedern aus dem Stiftungsrat herausgewählt.

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