Süddeutsche Zeitung

Weitergabe von US-Telefondaten:Unsichtbares Datenschleppnetz

Dass ein US-Nachrichtendienst per Geheimerlass die Verbindungsdaten von Millionen Bürgern einsammelt, ist beunruhigend. Noch beunruhigender aber: Der Patriot Act gibt den amerikanischen Sicherheitsbehörden alle Rechte dazu. Das ganze Ausmaß der Überwachung wird womöglich erst in Jahrzehnten bekannt werden.

Von Johannes Kuhn und Hakan Tanriverdi

Die gute Nachricht für die amerikanische Regierung ist eine schlechte für die amerikanischen Bürger: Die geheimgerichtlich angeordnete Datensammlung des US-Telefonunternehmens Verizon, die der Guardian aufgedeckt hat, ist legal.

Einem Beschluss des Foreign Intelligence Surveillance Court (FISC) zufolge muss Verizon vom 25. April bis zum 19. Juli dieses Jahres Verbindungsdaten sammeln und an die National Security Agency (NSA), den größten Militärnachrichtendienst, weiterleiten. Konkret bedeutet das: Sobald ein Verizon-Kunde mit seinem Festnetz- oder Mobiltelefon jemanden anruft, erhält die NSA folgende Informationen:

  • Wie lauten die Rufnummern beider Teilnehmer?
  • Kam der Anruf aus dem Ausland?
  • Wann fand der Anruf statt und wie lange dauerte er?
  • Wo steht das Festnetztelefon oder der Mobilfunkmast, mit dem das Handy des Kunden verbunden war?
  • Wie lautet die Mobile Subscriber Identity Number (IMSI), also die registrierte Nummer der SIM-Karte?

Inhalte des Gesprächs werden nicht gespeichert, es handelt sich also ausdrücklich nicht um eine Abhörmaßnahme - eine solche bedarf einer Gerichtsanordnung im Einzelfall. Auch die Namen der Anschlussinhaber muss Verizon nicht herausgeben.

Allerdings lassen sich diese durchaus identifizieren, zum Beispiel durch Quervergleiche mit anderen Telefonnummer-Datenbanken der Sicherheitsbehörden oder mit Hilfe von Algorithmen, die aus Verhalten und Verbindungen Profile erstellen können. "Bei einem Datensatz dieser Größe können auch Verbindungsdaten unglaublich viel verraten", zitiert die US-Seite Politico Julian Sanchez, einen Kenner der Entwicklungen der digitalen Privatsphäre.

Patriot Act deckt die Datensammlung

Die Sammelpraxis weist Parallelen auf zur Vorratsdatenspeicherung in der Europäischen Union, die in Deutschland derzeit außer Kraft gesetzt ist. Im Verizon-Fall allerdings lässt sich ein Geheimdienst gleich alle Daten direkt und geheim weiterleiten.

Wegen der Geheimhaltungspflicht geben weder Regierung oder NSA, noch Verizon Auskunft. Viele Fragen bleiben deshalb offen.

Die Gerichtsanordnung, die dem Guardian vorliegt, enthält einen Absatz, in dem von der Weitergabe von "Informationen, die über die konkret genannten Daten hinausgehen können" die Rede ist. Telefonanbieter sammeln beispielsweise auch Ortsdaten angeschalteter Handys, wenn überhaupt kein Telefonat stattfindet. Gibt Verizon also auch Standortdaten weiter? Die Antwort bleibt ebenso offen wie die Frage, ob auch andere Anbieter die Anrufdaten übermitteln müssen. Allerdings gehen Kenner der US-Geheimdienstpolitik davon aus, dass Verizon kein Einzelfall ist.

Der Patriot Act, das Überwachungsgesetz, das die Bush-Regierung nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 durchpeitschte und das der Kongress seither mehrmals verlängert hat, erlaubt theoretisch eine solche massive Datensammlung. Artikel 215 des Gesetzes legt fest, dass das FBI per geheimem FISC-Gerichtsbeschluss Zugriff auf "Bücher, Aufzeichnungen, Papiere, Dokumente und andere Objekte" erhalten kann. Als mögliche Anlässe werden das Sammeln von Geheimdienstinformationen über Nicht-Amerikaner, Ermittlungen gegen den internationalen Terrorismus oder Untersuchungen wegen verborgener Aktivitäten anderer Geheimdienste genannt.

Die Kriterien der Ermittler? Völlig unklar

Das nun veröffentlichte Dokument belegt, dass das FBI den Patriot Act offenbar auch nutzt, um der NSA Daten zukommen zu lassen - ein Indiz dafür, wie eng Bundespolizei und Geheimdienste inzwischen vernetzt sind. Vor allem aber verdeutlicht es, dass die US-Sicherheitsbehörden inzwischen mit dem Schleppnetz Daten von Millionen Menschen abfischen, ohne dass die Öffentlichkeit die Rahmenbedingungen solcher Eingriffe in die Privatsphäre kennen würde.

Mehrere amerikanische Medien und Bürgerrechtsinitiativen haben die US-Regierung bereits verklagt: Sie verlangen, die Kriterien zu veröffentlichen, nach denen Ermittler die Datenherausgabe beantragen. Die Electronic Frontier Foundation will zudem erreichen, dass das FBI einen Bericht über die Wirksamkeit solcher Ermittlungsmethoden sowie mögliche Missbrauchsfälle veröffentlicht.

Ob der nun veröffentlichte Beschluss zur Massenabfrage eine Ausnahme oder die Regel ist, bleibt intransparent und gibt Raum für Spekulationen: Einige Journalisten weisen darauf hin, dass Mitte April der Boston-Attentäter gefasst wurde und es sich um Anti-Terror-Ermittlungen in diesem Kontext handeln könnte. Allerdings zitiert die Washington Post einen nicht näher genannten Experten mit der Aussage, es handle sich um eine routinemäßige Verlängerung einer Praxis, die seit 2006 angewendet werde.

25 Jahre Geheimhaltung

Dass es sich um eine turnusgemäße Verlängerung handelt, legen auch die Aussagen der beiden demokratischen Senatoren Ron Wyden (Oregon) und Mark Udall (Colorado) nahe: Sie beschweren sich bereits seit Jahren über die herrschende Überwachungspraxis. "Die meisten Amerikaner wären erschüttert, wenn sie erfahren würden, wie diese Geheimgerichte Artikel 215 des Patriot Act auslegen", hieß es im vergangenen Jahr in einem Brief an Justizminister Eric Holder.

Obwohl die beiden Senatoren als Mitglieder des Geheimdienstausschusses über die Datensammel-Praxis informiert sein dürften, können sie aufgrund der Geheimhaltungspflicht keine Details über die Gründe für ihre Besorgnis nennen.

Sollte die nun entfachte Diskussion keine neue Transparenz-Initiative von Regierung oder Kongress bringen und auch die Klagen auf Herausgabe weiterer Informationen scheitern, könnte das ganze Ausmaß des amerikanischen Überwachungswesens erst in Jahrzehnten ans Licht kommen. Das nun vom Guardian veröffentlichte Dokument trägt offiziell eine Geheimhaltungsfrist bis zum Jahr 2038.

Update (15:45):

Der Nachrichtenagentur Reuters zufolge hat ein nicht genannter ranghoher Mitarbeiter des Weißen Hauses die Anordnung bestätigt. Die Sammlung der Daten sei wichtig, um die USA vor Anschlägen zu schützen und zu überprüfen, mit wem Terrorverdächtige kommunizieren.

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