Historisches Internet:Die älteste Webcam wird abgeschaltet

Historisches Internet: Eine aktuelle Aufnahme der FogCam - noch ist sie in Betrieb.

Eine aktuelle Aufnahme der FogCam - noch ist sie in Betrieb.

(Foto: Screenshot www.fogcam.org)
  • Die älteste noch aktive Webcam des World Wide Webs wird in wenigen Tagen abgeschaltet. 25 Jahre lang hat sie im Takt weniger Sekunden Standbilder gesendet.
  • In Zeiten von Instagram und YouTube suchen die meisten heute ungefilterte und authentische Bilder nicht mehr in Webcam-Livestreams sondern in den Apps großer Konzerne

Von Max Hoppenstedt

Die Hamburger Landungsbrücken hatten eine, die Störche im baden-württembergischen Bad Waldsee und der Nordpol auch: Eine Webcam, die in grobkörniger Auflösung alle paar Sekunden ein Livebild ins Internet schickte. Standbilder, auf denen sich Wolken durchs Bild schieben und sonst fast nie etwas Spannendes passiert. In den ersten zehn Jahren des World Wide Web gaben Webcams einem das Gefühl, überall live dabei sein zu können.

In Zeiten sozialer Medien mag es eigenartig erscheinen, aber lange waren Webcam-Bilder die einzige Möglichkeit, im Web etwas in Echtzeit zu sehen. Wirklich notwendig waren diese Livestreams selten, doch in den 1990er und frühen 2000er Jahren gehörten sie zur Kultur der Netzgemeinde. Da heute jeder von überall aus per Smartphone streamen kann, verschwinden die Kameras, die früher begeistert auf hässlich designten Geocities-Seiten gefeiert wurden, still und leise aus dem Netz.

Dieses Schicksal ereilt nun auch die älteste im World Wide Web streamende Webcam. Seit 25 Jahren hatte die FogCam vom Campus der San Francisco State University gesendet und die Zuschauer zum Beispiel über schlendernde Studenten oder die aktuelle Nebelintensität vor Ort auf dem Laufenden gehalten. "Das Internet hat sich seit 1994 sehr verändert, doch die FogCam wird immer einen besonderen Platz in der Internetgeschichte haben", schrieben die beiden Webcam-Betreiber Jeff Schwartz und Dan Wong auf Twitter. Zum Ende des Monats werden sie die Kamera, die sie als studentisches Spaßprojekt gestartet hatten, abschalten.

Ihr Vorbild war eine Legende des frühen WWW. Die "Trojan Room Coffee Pot Cam" zeigte den aktuellen Füllstand der Filterkaffeemaschine in der Küche der Informatikfakultät an der britischen Cambridge-Universität. Der Kaffee war zwar nur in Graustufen und der unschönen Auflösung von 128 mal 128 Pixel zu sehen. Aber dank der Kamera musste niemand mehr vergeblich von seinem Computer aufstehen und enttäuscht ohne nachgefüllten Becher aus der Küche zurückkehren.

Ruckelige Bilder aus dem Wohnzimmer für 100 Dollar

Als die Forscher in Cambridge das Script für ihre Kamera schrieben, war das World Wide Web erst wenige Monate alt. Von 1993 an konnten Browser dann nicht mehr nur Text und Links, sondern auch Bilder darstellen. Die Forscher verbanden die Kaffee-Kamera mit dem Netz und erschufen so die erste live übertragende Webcam. Es war kein Zufall, dass viele der frühen Kameras von Studenten und Forschern betrieben wurden. Universitäten waren die ersten Adressen für schnellere Internetverbindungen.

1994 kam mit der "QuickCam" die erste kommerzielle Webcam auf den Markt und verkaufte sich in den folgenden Jahren mehr als 500 000mal. Für 100 Dollar konnte jetzt jeder ruckelige Bilder aus seinem Wohnzimmer mit der Welt teilen. In einer Zeit, in der mit dem Netscape-Browser gesurft wurde, Online-Tagebücher über Geocities-Webseiten geteilt wurden und im Hintergrund das Einwahlmodem piepte, bescherten Webcams der Netzgemeinde einige ihrer lol-igsten Momente. Momente, in denen eigentlich nichts passierte.

Dank Webcams konnte man jetzt gleichzeitig am heimischen Computer verfolgen, ob ein Seemonster im Loch Ness auftauchte, im nächsten Tab die Bewohner einer Ameisenfarm beobachten und auf "Watching-Grass-Grow.com" in Echtzeit Gras beim Wachsen zuschauen. Die Seite hatte ein Hausbesitzer aus Colorado aufgesetzt, nachdem ihm aufgefallen war, wie gut er mit Bildern die Vorwürfe eines Golf-Kumpels kontern konnte, dass sein Rasen in einem schlechten Zustand sei. Im Laufe der Jahre sammelten sich hunderte Kommentare auf seiner Website - die Währung, in der Beliebtheit vor dem Zeitalter des Facebook-Likes gemessen wurde.

Webcams wurden nicht nur zu lustigen Memes, manchmal spielten sie sogar eine politische Rolle, wie im Fall des Unglücks auf der Bohrplattform Deepwater Horizon 2010. BP sah sich nach der Explosion unter öffentlichem Druck gezwungen, eine sogenannte Spillcam einzurichten. Sie zeigte live, wie aus dem leckenden Bohrloch am Ozeangrund Öl und Schlamm in den Golf von Mexiko sprudelte. Millionen schauten die Aufnahmen an. Politiker und Umweltorganisationen nutzten die Bilder für ihre Vorwürfe, BP würde das Ausmaß der Katastrophe verharmlosen. Der Konzern reagierte mit noch mehr Livestreams und übertrug auch die Löschbemühungen über der Wasseroberfläche.

Heute gibt es längst professionalisierte Webcam-Dienste, die Panorama-Bilder in HD von berühmten Orten übertragen. Anders als in den goldenen Zeiten der Hobby-Streams wird inzwischen auch Werbung vor Livestreams geschaltet. Wer authentische Bilder sehen will, öffnet die Apps kommerzieller sozialer Netzwerken wie Instagram, Snapchat oder TikTok.

Nützlich sein können Webcams immer noch: Wer im Sommer 2019 von einem Alpental in ein anderes wandern will, kriegt oft über die Webcam der nächstgelegenen Bergstation einen genaueren Bergwetterbericht als in den besten Wetter-Apps. Vorausgesetzt, der Handy-Empfang ist gut genug, um die aktuellen Webcam-Livestreams abzurufen.

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