WannaCry und Netzsicherheit:Warum die neofeudale Cybersecurity-Struktur gefährlich ist

WannaCry und Netzsicherheit: Die Telefonica-Zentrale in Madrid. Auch das Unternehmen war nach Angaben der spanischen Regierung von der Cyberattacke "WannaCry" betroffen.

Die Telefonica-Zentrale in Madrid. Auch das Unternehmen war nach Angaben der spanischen Regierung von der Cyberattacke "WannaCry" betroffen.

(Foto: AP)

Eigentlich sollten Regierungen in einer Demokratie das zerstörerische Wirken von Unternehmen zügeln. Doch Cyberattacken wie "WannaCry" kehren die Verhältnisse um.

Von Evgeny Morozov

Die Welle von Cyberangriffen mit der Schadsoftware "WannaCry" hat weltweit die Computersysteme von Krankenhäusern, Bahnbetrieben und Unternehmen lahmgelegt. Wer kein Lösegeld bezahlt, dessen Daten bleiben verschlüsselt. Das sollte nicht als einmaliger Streich von einfachen Kriminellen abgetan werden, die sich das Hacken beigebracht haben. Die Angreifer haben Hilfsmittel und Schwachstellen genutzt, die ursprünglich von US-Geheimdiensten für eigene Angriffe und zur Spionage entwickelt worden waren. Daher dürfen wir die unbequeme Tatsache nicht länger ignorieren, dass die zunehmend neofeudale Cyber-Security-Struktur "zahl oder geh unter" aus der Schwächung der demokratisch-kapitialistischen Ideale entstanden ist, da diese unter der Last der Dauerüberwachung zusammenbrechen.

Die politische Legitimierung des demokratischen Kapitalismus, dieser unwahrscheinlichen politischen Entwicklung, die uns das Ende der Geschichte beschert hat und sich nun als das einzige Bollwerk gegen den Rechtsextremismus darstellt, fußt auf einer klaren Gewaltenteilung zwischen Regierungen und Unternehmen. Regierungen überwachen Unternehmen, um die Kunden vor selten auftretenden Schäden durch sonst positive Geschäftstätigkeit zu schützen.

Dieses System gilt als demokratisch, weil Bevölkerungen Regierungen wählen und jeder Zeit wieder abwählen können; es ist kapitalistisch, weil Unternehmen von den Regeln des Wettbewerbs abhängen, der Effizienz, Innovation und unendlichen Wachstum belohnt. Diese Logik verhindert Stagnation, kann aber auch verheerende Folgen haben. Genau deshalb bedarf es verschiedener Regierungsmaßnahmen. So jedenfalls lautet der sozialdemokratische Konsens, mit dem sowohl Mitte-links- als auch Mitte-rechts-Parteien d'accord sind. Die Fragen von Krieg und Sicherheit haben dieses System schon immer vor Probleme gestellt. Das kann man daran sehen, dass regelmäßig Politikinsider kurz vor der Pensionierung vor dem militärisch-industriellen Komplex warnen. Demokratische Standards werden regelmäßig ignoriert, weil die Regierungen mehr Kontrolle über den Informationsfluss wollen, immer größere Teile ihrer internen Informationen klassifizieren und ihre Überwachungsaktivitäten ausweiten, ohne die Gewaltenteilung zu berücksichtigen.

Regierungen sollten eigentlich das zerstörerische Wirken von Unternehmen zügeln

Die Standardkritik an diesem Vorgehen setzt an bei den als undemokratisch geltenden, weil nicht nachvollziehbaren, Aktivitäten des sogenannten "deep state", eines Staates im Staat. Das Ziel der Gegner ist es, den "deep state" zu einem "shallow state", ihn also transparenter zu machen. Dies soll mithilfe von Kampagnen zur Stärkung der Privatsphäre, idealerweise in Form von juristischem Einschreiten, Transparenz und Zuständigkeiten geschehen.

Das tatsächliche Problem, so die Befürworter, liege im Versagen der Demokratie, und es sei ein Leichtes, die kapitalistische Komponente des "demokratischen Kapitalismus" zu ignorieren: Wir benötigten lediglich mehr und bessere Rechtsinstrumente, um die Geheimdienste besser zügeln zu können.

Leider kann die Welt im Jahr 2017 nicht so ordentlich in Kategorien dieses Systems unterteilt werden. Man führe sich nur das Beispiel der Cyber Security vor Augen. Viele Schurkenstaaten sind damit beschäftigt, die Server ihrer Gegenspieler in Westeuropa und Nordamerika zu hacken. Ebenso kann man nicht leugnen, dass nichtstaatliche Hackergruppen aus wirtschaftlichen oder patriotischen Gründen aktiv werden.

Nichts davon bringt den Gründungsmythos des demokratischen Kapitalismus ins Wanken, dass Regierungen dazu da sind, das zerstörerische Wirken von Unternehmen zu zügeln. Neue Gefahren sichern dem Staat eine gewichtigere Rolle. Was diesen Mythos jedoch ins Wanken bringt, ist die wachsende Erkenntnis, dass es die demokratischen Regierungen selbst sind, die mit ihren Geheimdiensten verantwortlich für Sicherheitslücken in unseren Kommunikationsnetzwerken sind, an unseren Smart-TVs herumpfuschen und Schlupflöcher in unseren Betriebssystemen schamlos ausnutzen. Wikileaks hat kürzlich CIA-Hacking-Werkzeuge veröffentlicht.

Die Regierungen machen das aus Beweggründen, die so mancher als edel bezeichnen würde: um früh Anzeichen von terroristischen Aktivitäten zu erkennen, um Kriminelle ausfindig zu machen, um Geräte zu blockieren, die für Verschwörungen genutzt werden, die verheerenden Schaden über unsere Städte bringen könnten. Um welche Motive es sich auch handelt, wir sollten niemals die weitreichende politische Wirkung aus den Augen verlieren. Die Ausweitung der Überwachungsmaßnahmen einer demokratischen Regierung setzt eine dauerhafte strukturelle Unsicherheit unserer Kommunikationsnetzwerke voraus. Diese Unsicherheit wird nicht nur von demokratischen Regierungen ausgenutzt, sondern auch von allen anderen, inklusive der Schurkenstaaten und der nichtstaatlichen Hacker.

Doch sobald die Unsicherheit strukturell wird, ist die richtige Reaktion kein Aufrüsten der Sicherheitsmaßnahmen, sondern der Versicherung. Das erklärt auch, warum Cyberversicherungen mittlerweile einer der vielversprechendsten Zweige auf dem Versicherungsmarkt sind. Sogar in Wirtschaftssektoren wie der Fertigung, die immer weiter digitalisiert und vernetzt ist, muss immer mehr Geld für die Versicherung gegen die Schäden von Cyberangriffen ausgegeben werden.

Im Grunde sind Cyberversicherungen, wie jede andere Form der Versicherung auch, das Metier von Rentiers, die darauf aus sind, regelmäßig Prämien von denjenigen zu bekommen, die ihre Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Neu ist, dass das Risiko, das diese neue Klasse von Rentiers auf den Plan ruft, teilweise, wenn nicht sogar hauptsächlich, von Regierungsaktivitäten hervorgerufen wird. Daher greift die Logik des demokratischen Kapitalismus nicht mehr. Regierungen zügeln nicht schädliches Geschäftsgebaren. Im Gegenteil rufen sie selbst durch ihr Handeln Schäden hervor, die wiederum von den Unternehmen abgemildert werden.

Mehr Autonomie auf eigenes Risiko

Die zweite politische Auswirkung des immer weiter expandierenden Überwachungsapparats ist der Nachteil, den er für kleine Unternehmen und NGOs mit sich bringt, von Privatpersonen ganz zu schweigen. Erinnern Sie sich an die frühen utopischen Visionen einer digitalen Welt, in der wir alle unsere eigenen Mailserver unterhalten und vernetzte Heime haben?

Heutzutage wollen wir mehr Autonomie auf eigenes Risiko. Angesichts der Ausgereiftheit der Cyberangriffe, deren Ziele Datendiebstahl und Fake Traffic auf den angegriffenen Seiten sind, ist es offensichtlich, dass die einzigen Firmen, die den normalen Anwender schützen können, egal ob er eine Privatperson oder eine Firma ist, große Technikunternehmen wie Google, Apple und Microsoft sind. Auch das verstößt gegen die Grundannahme des demokratischen Kapitalismus. Bürger werden angehalten, Schutz bei Firmen zu suchen, nicht bei Regierungen, die bestenfalls der Grund dafür sind, dass der Schutz überhaupt benötigt wird.

Wenn Spam und Sicherheitslücken mithilfe der höchstentwickelten Stufe von künstlicher Intelligenz beurteilt werden, kann man es vergessen, dass ein kleiner Player mit den Firmen mithalten kann, die diese von den Regierungen erzeugte strukturelle Unsicherheit nutzen, um ihr Quasi-Monopol weiter zu konsolidieren.

Die Welt der Cyber-Security funktioniert längst nach anderen Regeln

Demokratischer Kapitalismus ist daher immer auch schon demokratischer Monopolkapitalismus - besonders in seiner digitalen Ausprägung. Die Vorstellung, dass die Regeln des kapitalistischen Wettbewerbs zusätzlichen Druck auf digitale Riesen ausüben könnte, klingt kurios. Eine Garage, die so groß ist, dass sie ein Start-up beherbergen könnte, das Google gefährlich werden könnte, gibt es nicht.

Die dritte Auswirkung des postdemokratischen Kompromisses ist, dass Cyber Insecurity als natürliches Problem gesehen wird und somit die Rolle des Gesetzes und auch der Politik aushebelt. Zugleich schlichtet es Konflikte zwischen Bürgern und Unternehmen. Schauen Sie sich an, wie wir mit anderen Katastrophen umgehen. Es wäre unvorsichtig, sich allein auf die Möglichkeiten von Gesetz und Politik zu verlassen, wenn man Hochwasser und Erdbeben abwehren will. Unter diesen Umständen ist eine Versicherung eine vernünftige Option. Aber all das hält uns nicht davon ab, strengere Baustandards zu verlangen, um im Falle einer Katastrophe den Schaden zu minimieren.

Die Welt der Cyber Security funktioniert nach anderen Regeln. Stellen Sie sich vor, die Regierung schickte regelmäßig eine Horde gut bezahlter und gebildeter Saboteure los, um die Hochwassersperren und Erdbebenwarnsysteme unserer Heime zu schwächen. Unsere einzige Möglichkeit, Sicherheit zu garantieren, wäre der Privatsektor, entweder in Form besserer Sperren oder besserer Versicherung. In dieser Situation befinden wir uns, nur dass Cyber-Security-Katastrophen beinahe zur Gänze hausgemacht und somit vermeidbar sind.

Theoretisch würden die Regierungen vielleicht sogar der Aussage zustimmen, dass wir angesichts all dieser Gefahren die Persönlichkeitsrechte stärken müssen. In Wirklichkeit wissen wir jedoch alle, dass dies nur darin enden würde, dass die Regierungen noch mehr Saboteure mit noch wirksameren Instrumenten schicken würden, um unsere Schutzschilde zu schwächen. Wer würde unter diesen Umständen an seinem Vertrauen auf Gesetz und Politik festhalten, anstelle den Schutz zu wählen, den der Markt verspricht zu wählen?

Cyber Security ist leider nur eines von vielen Beispielen, bei dem die Legitimation des demokratischen Kapitalismus und auch der sozialdemokratischen Parteien ausgelaufen ist, auch wenn die Diskussionsansätze immer noch im Raum stehen. Kein Wunder, dass sozialdemokratische Parteien in sich zusammenfallen. Die Wahlen in den Niederlanden und Frankreich haben gezeigt: Sie behaupten, ein System zu verteidigen, das den Worten keine Taten mehr folgen lässt.

Aus dem Englischen von Sofia Glasl.

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