Wahlprognosen:Der nächste Bundeskanzler wird ...

Im Reichstag wird gearbeitet

Wer wird auf den Stühlen im Bundestag Platz nehmen? Statistiker wollen die Antwort jetzt schon kennen.

(Foto: dpa)

Brexit und die US-Wahl zeigen: Wahlprognosen sind mit Vorsicht zu genießen. Kann man dennoch die Bundestagswahl vorhersagen, wenn man sie 100 000 Mal durchspielt? Forscher versuchen das.

Von Marvin Strathmann

Kommt die AfD in den Bundestag? Welche Parteien werden Deutschland regieren? Reicht es für Schwarz-Gelb? Diese Fragen werden ab dem 24. September beantwortet. Wer jetzt schon Antworten sucht, der findet sie bei Marcus Groß. Der Statistiker prognostiziert auf dem Blog seines Arbeitgebers, ein Datenanalyse-Unternehmen aus Berlin, den Ausgang der nächsten Bundestagswahl.

In zwei interaktiven Grafiken zeigt Groß, auf welche Prozentwerte die Parteien am 24. September kommen könnten. Jeden Montag aktualisiert er seine Prognose, das bedeutet: Er füttert sein Programm mit den aktuellen Umfragewerten der Parteien. Das ergibt für jede Partei eine Spanne von Werten.

Ein Beispiel: Die Grünen könnten nach der Prognose von Groß bei der Bundestagswahl knapp unter die Fünf-Prozent-Hürde fallen oder 16,5 Prozent der Wählerstimmen holen. Das sind die extremen Endpunkte der Spanne, sie sind in seinem Prognosemodell sehr unwahrscheinlich. Der wahrscheinlichste Wert, den das Programm ermittelt, momentan 9,2 Prozent, wird extra ausgewiesen. Das ist die Prognose von Groß.

Damit blickt er weiter als die gängigen Umfrageunternehmen mit ihren Sonntagsfragen. Allensbach, Forsa oder Infratest dimap fragen regelmäßig, wie die Deutschen am nächsten Sonntag abstimmen würden, wenn denn Bundestagswahl wäre. Sie bilden den Moment ab. Groß will mit seinen Prognosen dagegen in die Zukunft blicken. "Einen klaren Gewinner vorherzusagen, ist aber nicht seriös. Je weiter man in die Zukunft schaut, desto unsicherer wird sie. Das schlägt sich auch in den Prognosen nieder", sagt Groß. Das bedeutet: Je weiter der Statistiker in die Zukunft schaut, desto größer wird die Unsicherheit.

Die traditionellen Demoskopen bekommen also Konkurrenz. Michael Kunert betrachtet Prognosen für den 24. September skeptisch. Er ist Geschäftsführer von Infratest dimap. Das Unternehmen erstellt für die ARD den Deutschlandtrend und ist für Hochrechnungen an Wahlabenden verantwortlich. "Wir veröffentlichen vor dem Wahlsonntag keine Prognosen, nur den aktuellen Stand der Stimmung. Sie in Wahrscheinlichkeiten umzurechnen, ist keine gute Idee", sagt er. Besser sei es, die Zahlen als solche zu nennen und auf die Einschränkungen hinzuweisen.

Neben den Prozentangaben für die einzelnen Parteien berechnet Groß auch jede Woche die aktuellen Wahrscheinlichkeiten einzelner Ereignisse. Das liest sich dann so: Martin Schulz wird Bundeskanzler, 0,7 Prozent Wahrscheinlichkeit. Die AfD kommt in den Bundestag, 99,8 Prozent Wahrscheinlichkeit. Es wird eine Mehrheit für eine Koalition aus Union und FDP geben, 7,1 Prozent Wahrscheinlichkeit.

Vorbild Nate Silver

Alle Wahrscheinlichkeiten berechnet Groß aus den aktuellen Umfrageergebnissen der Umfrageunternehmen. Er vergleicht frühere Umfragen sowie tatsächliche Wahlergebnisse und berücksichtigt, ob die Unternehmen eine Partei regelmäßig zu schwach oder zu stark eingeschätzt haben. So werden die Ergebnisse der Unternehmen unterschiedlich gewichtet. Groß fasst die einzelnen Umfragen zusammen und vergleicht sie mit früheren Bundestagswahlen. Nun wird die Wahl 100 000 Mal durchgespielt, um die Wahrscheinlichkeiten zu berechnen.

Seine Bachelor und Master in Statistik hat Groß an der Ludwig-Maximilians-Universität München absolviert, promoviert hat er letztes Jahr über Messfehlermodelle. Und er war zur US-Wahl in den USA. Dort beobachtete er, dass viele amerikanische Statistiker und Journalisten mit ihren Prognosen versucht haben, den Ausgang der letzten Präsidentschaftswahl vorherzusagen. "In Deutschland gibt es das noch nicht und da dachte ich mir, dass man das auch hier machen könnte", sagt er.

Nun wendet Groß ähnliche Methoden an wie der amerikanische Statistiker Nate Silver, der auf seiner Seite Fivethirtyeight Prognosen zu Wahlen und Sportereignissen veröffentlicht. Diese Prognosen waren in der Vergangenheit so gut, dass Artikel über Silver kaum ohne den Zusatz "Guru" auskamen. Aber Silvers Mythos ist seit der US-Wahl im vergangenen November angekratzt. Er hatte Hillary Clinton vorher eine Siegchance von etwa 70 Prozent eingeräumt, Trump kam auf 30 Prozent. Trump gewann. Hatte Silver sich geirrt?

Die US-Wahl hat nur ein einziges Mal stattgefunden

Er war auf jeden Fall näher dran als andere Kollegen: "Hillary Clinton hat eine 85-prozentige Chance zu gewinnen", hieß es in der New York Times. Die Huffington Post sah Clinton mit einer Wahrscheinlichkeit von 98,2 Prozent als Präsidentin, ein Wissenschaftler der Universität Princeton legte sich ebenfalls auf eine Wahrscheinlichkeit von 98 bis 99 Prozent fest.

Mindestens 20 000 Mal pro Tag hat Silver mit seinen Daten die US-Wahl durchgespielt und daraus die aktuellen Wahrscheinlichkeitswerte berechnet. Clinton hat etwa 70 Prozent dieser Simulationen gewonnen, Trump 30 Prozent, also fast jede Dritte. Die US-Wahl wird aber nicht 20 000 Mal wiederholt, sie findet nur ein einziges Mal statt.

Ein Clinton-Sieg mag in vielen Prognosemodellen wahrscheinlicher gewesen sein, aber das machte einen Trump-Sieg eben nicht unmöglich. Dieser Hinweis fehlt in vielen Prognosen. Die Statistik-Modelle produzieren am Ende konkrete Zahlen, die das Publikum wahrnimmt und oft missversteht. Wenn Clinton eine höhere Zahl aufweisen kann als Trump, dann muss sie doch gewinnen, oder? So funktionieren Wahrscheinlichkeiten aber nicht. Sie geben nie eine objektive, absolute Wahrheit an, sondern nur, was wahrscheinlich, je nach Modell, passieren wird. Andere Ereignisse sind unwahrscheinlicher, aber immer noch möglich.

30 Prozent Gewinnwahrscheinlichkeit hört sich nach wenig an, aber so hoch ist etwa die Wahrscheinlichkeit, das Spiel "Stein, Schere, Papier" zu gewinnen, wenn alles zufällig abläuft. Ein anderes Beispiel: Bei einem Münzwurf stehen die Chancen 50 zu 50, dass Kopf oder Zahl oben liegt. Allerdings ist es möglich, dass bei fünf Würfen fünfmal Kopf oben landet.

Auch Umfragen, die nur den Moment abbilden, haben dieses Problem: Am Ende steht für jede Partei ein Prozentwert fest, obwohl die Ergebnisse in Wirklichkeit schwanken.

"Klassische Umfrageunternehmen sind zu intransparent"

Die Wahl in den USA war nicht nur für Statistiker Groß eine Initialzündung. Auch die Journalisten Christian Fahrenbach und Dominik Wurnig möchten mehr aus den deutschen Umfragen machen. Seit Anfang Mai ist ihr Portal Signal und Rauschen online. Sie wollen Prognose- und Umfragewerte in journalistischen Beiträgen analysieren. Eine eigene Prognose für die Bundestagswahl soll demnächst dazukommen. In ihre Methode fließen nicht nur die Umfragewerte mit ein, sondern auch andere Daten, etwa Arbeitslosenzahlen oder die aktuelle Inflationsrate. Sie wollen den Prozess offen beschreiben und mit den Lesern diskutieren.

"Klassische Umfrageunternehmen sind zu intransparent", sagt Wurnig. "Wir wollen zeigen, wie Umfragen entstehen, was sie leisten können und was nicht." Für dieses Projekt werden sie vom Medieninnovationszentrum Babelsberg mit 37 500 Euro unterstützt. Weitere 15 000 Euro sollen von den Lesern kommen.

Neben Signal und Rauschen und Marcus Groß versuchen weitere Initiativen, den Ausgang der Wahl vorherzusagen. Forscher der Universitäten Mannheim und Zürich sowie von der Humboldt-Universität in Berlin veröffentlichen ihre Prognosen auf Zweitstimme.org. Auf Pollyvote.de möchte Andreas Graefe von der Ludwig-Maximilians-Universität München jetzt schon wissen, wer die Bundestagswahl gewinnt - mit einer Kombination aus Expertenbefragungen und Prognosen.

Trotz unterschiedlicher Methoden und Modelle: Wie nah die Prognosen an der Wirklichkeit liegen, erfahren alle Statistiker erst nach dem 24. September, wenn nicht 100 000 Wahlen durchgespielt werden, sondern die Wähler ein einziges Mal ihre Stimme abgegeben haben.

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