Vorratsdatenspeicherung:Dieses Thema interessiert Sie nicht - sollte es aber

Vorratsdatenspeicherung

Es gibt tatsächlich Menschen, die gegen die Vorratsdatenspeicherung auf die Straße gehen - doch es sind wenige.

(Foto: Rainer Jensen/dpa)

Wer nicht will, dass ein Text gelesen wird, muss nur das lange V-Wort darüber schreiben. Warum das Desinteresse an der Vorratsdatenspeicherung falsch ist.

Ein Plädoyer von Simon Hurtz

Kollegin Sarah Schmidt weiß, dass die Vorratsdatenspeicherung ein wichtiges Thema ist. Trotzdem hat sie aufgehört, sich darüber zu informieren, und den "lieben Digital-Kollegen" einen offenen Brief geschrieben: "Warum ich keine Artikel zur Vorratsdatenspeicherung lese". Jetzt antwortet ihr Simon Hurtz.

Liebe Sarah,

kürzlich hast du knapp 500 Wörter geschrieben, die mich nachdenklich gemacht haben. Du hast mir und anderen Lesern erklärt, warum du keine Artikel zur Vorratsdatenspeicherung mehr liest. Ich habe deinen Text Korrektur gelesen und wollte dir sofort widersprechen. Das Problem ist: Ich kann dich verstehen. Die Vorratsdatenspeicherung ist der Prototyp eines "Man müsste mal"-Themas. Man weiß, dass es irgendwie wichtig ist, aber sobald das lange V-Wort in der Überschrift auftaucht, schwebt der Mauszeiger über den nächsten Artikel.

Das Digitalressort, für das ich schreibe, ist reich an solchen Themen: die beispiellose Massenüberwachung durch internationale Geheimdienste, der sorglose Umgang mit privaten Fotos, Netzneutralität, Datenschutz - die meisten Menschen ahnen, dass sie sich dafür interessieren sollten, doch die wenigsten schaffen es, auch nur einen einzigen Text anzuklicken, geschweige denn zu lesen. Wieder ein neuer NSA-Skandal? Die hören doch eh schon alles ab. Der BND spioniert mit? Sag bloß. Werbenetzwerke kennen mich besser als meine Freunde? Solange Facebook kostenlos bleibt, ist mir das egal.

Als Journalist, der täglich über diese Themen schreibt, sollte ich mich darüber aufregen. Doch auch mir fällt das schwer. Du hast es ja selbst so nachvollziehbar beschrieben: Wenn Staaten schnüffeln und private Firmen ihre Nutzer durchleuchten, spürt der Einzelne zunächst keine unmittelbaren Konsequenzen. Zum Glück - oder leider, je nachdem. Denn so erscheint das Thema weit weg und ermüdet schneller.

Trotzdem kann und will ich deinen Text nicht als letztes Statement zum Thema Vorratsdatenspeicherung stehen lassen. Dafür ist das Thema einfach zu wichtig. Es kann nicht sein, dass die Bundesregierung eines der sinnlosesten Gesetze der letzten Jahrzehnte verabschiedet und sich nach wenigen Tagen niemand mehr darum schert. Du sagst, dass du unsere langen Artikel dazu nicht liest? Gestatte mir einen letzten Versuch. Hier sind sechs Gründe, warum du deine Bequemlichkeit überwinden solltest.

1. Die Vorratsdatenspeicherung ist überflüssig

Law-and-Order-Politiker verwenden seit Jahren eine simple Gleichung: Je mehr Daten wir speichern, desto sicherer leben wir. Diese Gleichung ist falsch. Befürworter sind bislang jeden Nachweis dafür schuldig geblieben, dass anlasslose Massenüberwachung zu höheren Aufklärungsquoten beiträgt oder Straftäter abschreckt.

Wenn Pharmafirmen ein neues Medikament auf den Markt bringen wollen, müssen sie nachweisen, dass es mehr nützt als schadet. Wenn Politiker ein neues Gesetz einführen, das die Grundrechte von 80 Millionen Bürgerinnen und Bürgern bedroht, müssen sie offensichtlich nicht einmal nachweisen, dass es überhaupt irgendetwas nützt.

2. Unsinn wird durch Wiederholung nicht besser

In den vergangenen Jahren folgte auf jeden Terroranschlag in der westlichen Welt mit großer Gewissheit eine Forderung: Wir brauchen die Vorratsdatenspeicherung. Netzpolitik.org hat dazu eine chronologische Übersicht erstellt, die den Pawlowschen Reflex von Politikern wie Hans-Peter Uhl oder Hans-Peter Friedrich verdeutlicht.

Das Problem mit deren Argumentation: Die Beispiele sind fast alle denkbar ungeeignet. Die Vorratsdatenspeicherung in Frankreich hat nicht geholfen, den Anschlag auf Charlie Hebdo zu verhindern? Macht nichts, Deutschland braucht sie trotzdem. Zum Zeitpunkt des Verbrechens von Anders Breivik gab es in Norwegen gar keine Vorratsdatenspeicherung? Für Sigmar Gabriel spielt das keine Rolle. Er behauptet unbeirrt, dass sie bei der Aufklärung der Tat geholfen habe.

3. Der Vergleich mit Google und Facebook hinkt

Während von der Vorratsdatenspeicherung jeder betroffen ist, der telefoniert, im Internet surft oder auch nur ein Smartphone mit sich trägt (die Standortdaten werden ebenfalls gesammelt), sind ein Facebook-Account oder eine Google-Suche immer noch freiwillig.

Vor allem aber ist die Nutzung von sozialen Netzwerken und Suchmaschinen ein Tauschgeschäft: Ich biete Daten und Aufmerksamkeit (für Werbung) und bekomme dafür einen Service. Das Tauschgeschäft bei der Vorratsdatenspeicherung ist äußerst einseitig: Ich biete Grundrechte und Privatsphäre und bekomme dafür - nichts, denn für den in Aussicht gestellten Zugewinn an Sicherheit fehlt jeglicher Nachweis (s. Punkt 1).

Überwachung ist teuer, Daten sind unsicher

4. Du bezahlst für deine eigene Überwachung

Die Bundesnetzagentur schätzt, dass die Telekommunikationsanbieter einmalig mindestens 260 Millionen Euro investieren müssten, um die Daten für den Staat sammeln zu können. Der Unterhalt der Überwachungsmaschinerie würde laufend weitere Millionen verschlingen. Der Verband der deutschen Internetwirtschaft rechnet sogar mit 600 Millionen.

Man kann es der Telekom, Vodafone und anderen Konzernen nicht einmal vorwerfen, dass sie diese Beiträge an ihre Kunden weitergeben. So funktionieren Wirtschaftsunternehmen. Aber wenn dein Handyvertrag bald ein paar Euro teurer wird, weißt du, wem du das verdankst: deinen Abgeordneten.

5. Deine Daten sind nicht sicher

Im digitalen Zeitalter ist nichts, aber auch gar nichts sicher. Alles und jeder kann gehackt werden, und wo Cyber-Kriminelle scheitern, schnüffeln eben die Geheimdienste. In unschöner Regelmäßigkeit werden immer neue Datenlecks bekannt, erst vor kurzem musste die US-Personalbehörde OPM einräumen, dass sensible Informationen von mehr als 20 Millionen Bediensteten erbeutet wurden. Offensichtlich schaffen es selbst die USA nicht, heikle Datensätze zu schützen.

Natürlich versichern die verantwortlichen Politiker, dass die Verbindungsdaten von mehr als 80 Millionen Bürgern bei den zur Speicherung verpflichteten Telekommunikationsanbietern absolut sicher seien. Vermutlich genauso sicher wie das Netzwerk des Bundestags - über das ein IT-Experte sagte: "Ein 17-jähriger Nerd mit vielen Freistunden hat durchaus Potenzial, den Laden einmal komplett zu übernehmen."

6. Du darfst Politikern keine Narrenfreiheit gewähren

Der erste Versuch, die Verbindungsdaten aller Menschen in Deutschland zu speichern, fand 2010 sein Ende vor dem Bundesverfassungsgericht. Einer gesamteuropäischen Richtlinie erging es ähnlich: 2014 erteilte der EuGH dem "Eingriff von großem Ausmaß und besonderer Schwere in die Grundrechte" eine Absage.

Nun wurden Dauer und Umfang der Speicherung begrenzt. Vielleicht stellt das neue Gesetz nur noch einen mittelschweren Grundrechtseingriff dar, vielleicht scheitern die neuen Klagen vor dem Verfassungsgericht. Anders ausgedrückt: Fünf Jahren nach der höchstrichterlichen Abfuhr versuchen es die Politiker mit einem "nachgebesserten" Gesetz erneut. Statt sich endgültig vom feuchten Traum der anlasslosen Massenüberwachung zu verabschieden, zimmern sie ein Gesetz, das keinen nachweisbaren Nutzen hat und Grundrechte möglicherweise nicht mehr derart einschränkt, dass die Verfassungshüter widersprechen müssen (wobei die EU-Kommission da eher skeptisch ist).

Ist es das, was wir von unseren Abgeordneten erwarten? Ich finde: nein. Und ich glaube, dass wir das unseren Repräsentanten klar machen müssen. Mit Protest auf der Straße, mit Petitionen im Netz, mit einem Kreuz bei der nächsten Wahl.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: