Süddeutsche Zeitung

Virtual Reality:Begegnungen auf dem Holo-Deck

Wale zum Anfassen, hüftgroße Spinnen und wütende Soziopathen: Die neuen Virtual-Reality-Brillen kommen der Technik aus der Science-Fiction-Serie "Star Trek" schon ziemlich nahe.

Von Matthias Huber, Köln

Die neue Welt sieht grenzenlos aus, doch sie hört mit ein paar dünnen blauen Linien auf. Sie sind unsichtbar, bis man ihnen ganz nahe kommt. Sie erscheinen einfach mitten in der Luft. Sie durchdringen mühelos feste Wände, Möbel und lebendig erscheinende Tiere. Und wer nicht glauben will, dass diese Linien eine Warnung sind und trotzdem stur weiter vorwärts läuft, der wird sich den Schädel an einer unsichtbaren Wand stoßen.

Virtual Reality, kurz "VR", heißt die Technologie, die so ein surreales Erlebnis möglich macht. Was der Handy-Hersteller HTC auf der Gamescom in Köln zeigt, kommt dem Holo-Deck aus der Science-Fiction-Serie "Star Trek" zumindest beeindruckend nahe: In einem mit schwarzem Stoff ausgekleideten Raum erhält der Nutzer den VR-Helm namens "Vive" und je Hand ein Eingabegerät. In den Zimmerecken befestigte Lasersensoren registrieren jede Bewegung, entsprechende Software errechnet eine digitale Fantasiewelt.

In dieser Welt geht er beispielsweise auf dem Deck eines gesunkenen Schiffes spazieren, schaut vorsichtig über die Reling. Falls er das Gleichgewicht verliert und in den bodenlos dunklen Schlund stürzt, den er sieht, gibt es ja nichts Reales, woran er sich festhalten könnte. Ein paar Fische schwimmen durch das Wasser, ein Mantarochen, ein ausgewachsener Blauwal. "Das ist unser Großer", sagt eine Stimme im Kopfhörer. "Der tut nichts, gehen Sie ruhig näher ran." Der Wal hält inne, betrachtet den Eindringling aus einem fast kopfgroßen Auge. Der Nutzer kämpft kurz mit dem Impuls, den Wal anfassen zu wollen, weil es ja eigentlich nichts anzufassen gibt, streckt aber natürlich trotzdem die Hand aus. Der Wal schwimmt weiter, der Nutzer duckt sich unter einer Flosse hinweg.

"Wir wollen uns nicht in einer Nische bewegen"

Die wenigsten Kunden werden dazu bereit sein, in ihrer Wohnung ein ganzes Zimmer für die digitale Welt leer zu räumen, wie sie eine VR-Installation wie die Messe-Version des Vive erschaffen kann. Stattdessen wird sich das virtuelle Erlebnis daheim erst einmal darauf beschränken, die Kopfbewegungen des Nutzers zu registrieren. Das können alle für den Markt angekündigten VR-Headsets: Der Crowdfunding-Erfolg "Oculus Rift", der vor einiger Zeit für einen Milliardenbetrag von Facebook gekauft wurde; das "Vive" von HTC und Spielehersteller Valve; die Version für Smartphones von Samsung mit dem Namen "Gear VR"; oder das Spielkonsolen-Modell namens "Morpheus", das derzeit von Sony entwickelt wird. "Wir zielen immer darauf, uns einen größeren Markt zu eröffnen", sagt Uwe Bassendowski, verantwortlich für Sonys Playstation-Geschäft in Deutschland, Österreich und der Schweiz. "Wir wollen uns nicht in einer Nische bewegen."

2016 sollen die ersten Geräte im Handel erhältlich sein - nach jahrelanger Entwicklungszeit und Dutzenden, immer wieder in Details verbesserten Vorab-Modellen, mit denen Software-Entwickler bereits die Möglichkeiten der neuen Technologie erforschen konnten. Oculus-Gründer Palmer Luckey zierte kürzlich bereits das Cover des amerikanischen Time-Magazins: In lockerer Bürokleidung, barfuß, an einem Strand - und mit einer VR-Brille auf dem Kopf.

Die Botschaft ist klar: Virtual Reality mag etwas skurril und albern sein und natürlich primär eine Freizeit-Attraktion. Aber es geht um weit mehr als nur die milliardenschwere Computerspiele-Industrie. Davon ist auch Maximilian Schenk, Geschäftsführer des Bundesverbands Interaktive Unterhaltungssoftware (BIU) überzeugt: "Die Gaming-Branche war schon immer ein Innovationstreiber", sagt er. Beispielsweise seien viele der heute verbreiteten Micropayment-Geschäftsmodelle in der Computerspielindustrie erfunden worden.

Ähnlich könnte auch VR in andere Branchen hinüberschwappen, beispielsweise seien "Live-Übertragungen von Veranstaltungen wie Pop-Konzerten oder Sport-Ereignissen per Virtual Reality" denkbar. Der ehemalige Handy-Hersteller Nokia stellte kürzlich eine Rundum-Kamera namens "Ozo" vor, mit der VR-Material gefilmt werden soll. Actionkamera-Marktführer Gopro soll an einem ähnlichen Modell arbeiten.

Aber noch nicht alle Experimente mit der neuen Technologie fühlen sich schon so gut an wie die Unterwasserwelt des "Vive". Der VR-Horrorfilm "Kitchen" für Sonys Morpheus versetzt den Zuschauer in die Position eines Gefesselten, der von einem zombiehaften Angreifer erst gefoltert und schließlich ermordet wird. Der Spielehersteller Ubisoft zeigte eine Demo namens "Eagle Flight": Der Spieler steuert den Flug eines Adlers mit seinen Kopfbewegungen. Das mag intuitiv erscheinen, opfert aber genau jenes Rundum-Erlebnis, das Virtual Reality liefern könnte, für ein Bewegungssteuerungs-Gimmick.

Mit VR wird der Zuschauer zum Mitmacher

Damit sich VR durchsetzt, müssen die Entwickler wohl kreativer werden. Das Interesse ist jedenfalls da: Einer Umfrage des Branchenverbands Bitkom zufolge, kann sich jeder fünfte Deutsche vorstellen, eine VR-Brille zu nutzen, jeder zehnte hat es sogar fest vor. "Ich bin sicher, dass Virtual Reality kein Gimmick sein wird", sagt Schenk. "Aber selbst wenn: Auch von Gimmicks bleiben nützliche Aspekte übrig und werden Teil des Mainstream."

Spannender als Weltraumschlachten in Rundum-Perspektive oder versunkene Schiffswracks zum Doch-Nicht-Anfassen werden deshalb die Rollen, die der Nutzer in der digitalen Welt einnimmt. Herkömmliche Filme oder Spiele machen ihn zum Zuschauer mit mal mehr, mal weniger Einflussmöglichkeiten auf das gezeigte Geschehen. Mit VR kann diese Interaktion plötzlich gegenseitig werden.

Die virtuellen Figuren reagieren jetzt auf den Menschen: Der Blauwal staunt zurück, wenn er vom Eindringling in seine Welt angestarrt wird. Die Spinne einer Fantasiewelt, die dem auf Daumengröße geschrumpften Nutzer bis zur Brust ragt, rennt ob des ungewohnten Anblicks Gott sei Dank erschrocken davon. Und der soziopathische Bösewicht aus einem Ubisoft-Spiel unterbricht seinen Monolog über die Natur des Wahnsinns, wenn der Zuschauer nicht mehr aufpasst und zur Seite blickt. Das Gefühl, Teil der digitalen Welt zu sein, ist das größte Versprechen von Virtual Reality. Die Möglichkeiten für Kultur und Entertainment liegen weit jenseits von Jahrmarkt-Attraktionen und virtuellen Ich-Erlebnissen. VR eröffnet eine völlig neue Art des interaktiven Erzählens.

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Quelle:
SZ vom 26.08.2015/mahu
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