Videospiel: Micky Epic:Ein Thron aus Schrott

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Comic-Streber Mickey Mouse war in seinen Anfangszeiten einmal ein richtiges Arschloch - ein Videospiel gibt ihm jetzt seine alte Lasterhaftigkeit zurück.

Michael Moorstedt

Was viele vergessen haben, ist ja, dass Mickey Mouse einmal ein richtiges Arschloch war. Er soff schwarzgebrannten Schnaps in Mexiko, belästigte die ewig devote Minnie mit ungebetenen Küssen, war Tierquäler und Gesetzesbrecher. Genau diese Lasterhaftigkeit allerdings war ein Grund seines frühen Erfolgs.

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Seit mehr als 80 Jahren behauptet sich der später zum Streber konvertierte Mickey nun schon in der Comicwelt. Längst sind allerdings andere, noch reinlichere Phantasiegestalten zu den Cash-Cows des Konzerns geworden. Hannah Montana zum Beispiel, oder die Jonas Brothers.

Ja, Mickey Mouse, der Pop-Star, dessen ikonographischer Wert, wie der Bildhauer Ernest Trova einmal sagte, nur vom "Coca-Cola-Label und dem Hakenkreuz" übertroffen wird, ist in die Jahre gekommen. Mit dem Videospiel "Micky Epic" versucht Disney nun, die Figur einer neuen, visuell und narrativ abgehärteten Zielgruppe anzutragen. Immerhin hatte Disney diesen Markt zwanzig Jahre lang ignoriert. Bleibt die Frage, ob das funktionieren kann. Ist es für ein Franchise-Reboot von Mickey Mouse nicht längst zu spät? Kann der notorische Comic-Streber tatsächlich auch dunkle Facetten besitzen?

Spiele-Designer Warren Spector, der mit dem Cyberpunk-Epos "Deus Ex" und den Egoshooter "System Shock" berühmt wurde, gibt dem Spieler, was in Disney-Produktionen sonst absolut verpönt ist: Nämlich die Hoheit über die moralischen Entscheidungen. Zwar kennt das binäre Wertesystem Mickeys noch immer keine Grautöne, doch allein, dass überhaupt über Gut oder Böse verhandelt wird, stellt eine fast revolutionäre Neuerung dar.

Die Handlung findet im sogenannten Wasteland statt, einer Art degeneriertem Vergnügungspark. Die Fahrt durch den Disney-Land Themenpark wird zu einem Ritt mit der Geisterbahn. Das Setting wirkt düster und könnte auch aus einem Tim Burton Film stammen, in diesem Comic-Ghetto vegetieren all die Gestalten vor sich hin, die wegen Mickeys fixsternhafter Fabelhaftigkeit vom Publikum vergessen wurden.

Schuld an der Misere ist die Maus höchstselbst. Einer der Bewohner der Disney-Mülldeponie, Oswald The Lucky Rabbit, war einst der Prototyp für Mickey bis Walt Disney in den späten zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Rechte an der Figur abtreten musste. Fast neunzig Jahre später wird er nun zu seinem düsteren Zerrbild, einem eifersüchtigen Halbbruder, vage balancierend in den Verwerfungen zwischen Bewunderung und Hass. Er sitzt auf einem Thron aus Mickey-Merchandisingschrott.

Seinen Feinden rückt Mickey mit der, zumindest in dieser Welt, ultimativen Waffe auf den Zeichentrick-Pelz - einem Tintenkiller, er radiert sie buchstäblich aus. Andererseits hat er auch einen Eimer Farbe zur Hand, um, wenn dies der Laune des Spielers entspricht, zerstörte Gegenden wieder mit Leben zu befüllen.

Aus dieser Willkür ergibt sich auch, wie die anderen Charaktere auf den seltsam ambivalenten Helden reagieren: Sie rennen in Panik davon oder begrüßen ihn euphorisch als Retter. Ob die digitale Jugendkur auch beim Publikum anschlägt? Geklärt wäre zumindest, wohin Comicfiguren gehen, wenn sie sterben, also vergessen werden.

Oswald, das schizophrene Kaninchen, hat in einem lichten Augenblick schon mal im Wasteland ein Dimizil für Mickey errichtet. Für den Zeitpunkt, wenn auch Disneys größter Held seinen letzten Gang auf den Comic-Friedhof antreten muss.

© SZ vom 18.12.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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