Videospiel Heavy Rain:Düstere Entscheidungen

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Game Noir: Der Playstation-3-Thriller Heavy Rain verschiebt die Grenzen zwischen Videospiel und Kinofilm - und stellt selbst erfahrene Spieler vor schwere Gewissensentscheidungen.

Tobias Moorstedt

Ein roter Luftballon schwebt über der Menschenmenge und weist den Weg. "Finde das Kind", heißt es zu Beginn des Videospiels "Heavy Rain", und so steuert man den Architekten Ethan Mars durch die Popcornstände, Rolltreppen und 3-D-Werbemittel eines Einkaufszentrums und versucht, seinen zehnjährigen Sohn Jason zu finden, das Kind mit dem roten Ballon.

Der Prolog oder, wie es in der Videospiel-Sprache heißt, das Tutorial, wird meist dazu genutzt, den Spieler mit der Steuerung vertraut zu machen: drücke Knopf X um einen Sprung auszuführen, drücke L1 um das Menü aufzurufen, dem Boot-Up des Computers folgt das virtuelle Boot-Camp, bei dem man die Naturgesetze der Spielwelt kennenlernt und die notwendigen Fertigkeiten erlernt, um diese und die anwesenden Antagonisten zu beherrschen.

Nur diesem verdammten Kind kommt man nicht hinterher. Der Gang durch die Menge ist mühsam, sofort verliert man den Überblick und es gibt, anders als sonst, auch keinen Radarschirm, der Gegner und Ziele anzeigt, stattdessen nur Bewegungen im Augenwinkel, Gesprächsfetzen, die Ellbogen und all der Eigensinn einer Menschenmasse.

Ein Scheitern ist möglich

Der rote Ballon zieht zitternd weiter, wie ein Irrlicht, führt immer weiter fort von den gewohnten Pfaden, und man kommt nur langsam voran, viel zu langsam, und dann ist es zu spät.

Die erste Lektion, die man lernt, heißt: Ein Scheitern ist möglich. Der Spieler, der gewohnt ist, im Kreislauf zwischen "Game Over" und "Neustart" seine Sinne so lange zu schärfen, bis er der allmächtige Herrscher über die Welt ist, unterliegt hier dem Autor, der es anders will. Der Ballon fliegt davon. Die Geschichte geht weiter.

"Heavy Rain" ist ein schnell getakteter Videospiel-Thriller, und versetzt den Spieler in eine anonyme US-Großstadt, die von einem Serienmörder terrorisiert wird. Der "Origami Killer" entführt immer wieder kleine Kinder, die einige Tage später ermordet aufgefunden werden, in der Hand eine zerbrechliche Papierfigur.

Der Spieler steuert vier Hauptfiguren, den Privatdetektiv Scott Shelby, einen drogensüchtigen FBI-Agenten, eine Journalistin, die auf den großen Scoop hofft, und eben Ethan Mars, dessen Sohn entführt wurde, und der immer wieder Aufgaben und Nachrichten vom "Origami Killer" erhält: "Wie weit bist du bereit zu gehen, um jemanden zu retten, den du liebst?"

Die Beziehung zur Figur

Dieser Satz richtet sich an die Figur ebenso wie an den Spieler vor der Konsole und zeigt, dass es sich bei "Heavy Rain" nicht nur um einen weiteren Videospiel-Blockbuster handelt, der zufällig so aussieht wie der neue Film von David Fincher.

Wird hier doch das Bestehen einer echten Beziehung zu einer Figur inszeniert, sowie, und das ist das eigentlich Unerhörte, die Möglichkeit erwogen, der Spieler könne sein Ziel wegen moralischer Bedenken verfehlen. Exzessive Emotionalität war bislang eigentlich nicht das Problem einer Szene, in der man Konflikte gerne mit der Plasma-Kanone auflöst.

"Heavy Rain", das von der französischen Firma Quantic Dreams produziert wurde, und das zu den wichtigsten und auch am aufwendigsten beworbenen Playstation-Titeln des Jahres zählt, ist ein unzeitgemäßes Produkt. Die Videospiel-Industrie tendierte zuletzt zum sogenannten "Casual Gaming", womit Balance-Übungen und andere Hampeleien gemeint sind, die durch Infrarotkamera und Bewegungssensoren in den Spiel-Raum integriert worden.

David Cage, der Produzent von "Heavy Rain", fühlte sich durch diese Entwicklung in seiner Kreativität beleidigt und bezeichnete Videospiele auch schon als "so eindimensional wie Pornographie".

Cage, den man in der Branche ehrfürchtig einen Videospiel-Auteur nennt, sucht nach "ernsthaften Geschichten für ein erwachsene Publikum". Er nennt das Produkt "interaktives Drama".

In einer Szene betritt man als Privatdetektiv Scott Shelby einen kleinen Supermarkt um einen Zeugen zu befragen. Während sich der Spieler zwischen den Regalen umschaut, dringt ein Räuber ein, und bedroht den Ladenbesitzer mit einer Schusswaffe.

Der Spieler hat nun verschiedene Möglichkeiten, die Szene aufzulösen. Er kann versuchen, sich unbemerkt zu nähern und den Kriminellen mit einer Bratpfanne auszuschalten, er kann aber auch probieren mit verschiedenen Kommunikationsstrategien - verständnisvoll, persönlich, aggressiv, den Ernstfall abzuwenden. Es ist seine Entscheidung. Die Überfall-Szene kann auf verschiedene Art und Weise enden, die dann wiederum den weiteren Aufbau und Ablauf beeinflussen.

Eine "sich biegende Storyline"

"Heavy Rain" ist kein klares System an Kreuzungen und Entscheidungsbäumen, die man aus den Multiple-Choice-Abenteuerbüchern der achtziger Jahre oder interaktiven Film-Experimenten wie "Myst" und "7th Guest" kennt. David Cage nennt den interaktiven Text aus Nullen und Einsen gerne "eine sich biegenden Storyline", man könnte auch von einem Erzählraum voller Plot-Punkte und sich verzweigender Pfade sprechen.

Das Spiel beginnt also in der so genannten heilen Vorstadtwelt. Der Spieler erledigt als Ethan Mars mit einfachen Tastenbewegungen und Input-Choreographien die banalsten Aufgaben. Er deckt den Tisch, spielt mit den Kindern oder fasst seiner Frau zärtlich an die Schultern.

Die Alltagshandlungen dienen auch dazu, eine neuartige Intimität zwischen Spieler und Figur herzustellen - David Cage weiß, wenn ein Rezipient nichts für eine Figur empfindet, dann gibt es keine Geschichte. Das erinnert nicht zufällig an das suburbane Simulacrum "Die Sims".

Während sich die Sims-Reihe jedoch mit dem Alltagsmanagement der Spielfiguren begnügt, ist das Werbespot-Setting in "Heavy Rain" nur der Ausgangspunkt für die Geschichte. Der Thriller zeigt uns das Paradies, damit wir dessen Verlust betrauern.

Das Design des Spiels orientiert sich dabei mit dem düsteren Himmel, dem allgegenwärtigen Regen, den tiefen Regenpfützen, in denen sich das Licht von Straßenlaternen und flackernden Neonreklamen spiegelt, an der Atmosphäre des Film Noir, der, das sollte nicht überraschen, hochkompatibel ist mit dem neuen 3-D-Entertainment.

Das Ziel des Spiels ist völlig unklar

Es handelte sich beim Film Noir schließlich weniger um ein Genre als um eine Topographie, wie der Filmwissenschaftler Edward Dimendberg bemerkte, "a new lifeworld of the automobile and the freeway, with ist poetics of distance, speed, pleasure, and technologically mediated solitude".

Der Spieler sah die virtuellen Welten der Gegenwart bislang meist durch die Ich-Perspektive. Der Spieler-Wille "ist" der Protagonist und blickt auf die digitalen Landschaften wie auf eine objektive darstellbare, vormoderne Wirklichkeit.

In "Heavy Rain" dagegen erlebt man die düstere Stadt aus vier Perspektiven - und immer wieder blickt ein Gesicht aus dem Bildschirm heraus, zeigt, dass man nicht in dem Kopf der Figur steckt, dass man es mit einem Subjekt mit eigener Geschichte, Emotionalität und Agenda zu tun hat. An einigen Stellen "spielt" man auch eine Halluzination oder einen Traum, kann sich nicht mehr sicher sein, ob man der Wahrnehmung der Figur trauen kann, auf welcher fiktionalen Ebene man sich gerade befindet

Und: Das Ziel des Spiels, das man sonst immer in der Gebrauchsanleitung nachlesen konnte, ist völlig unklar.

Videospiel-Eingabegeräte haben zwischen 10 und 12 Knöpfe, die alle mit einer Tätigkeit belegt sind - Springen, Laufen, Hüpfen, Schießen. "Heavy Rain" bricht mit diesen Konventionen, hier wechselt ein Knopf je nach Kontext seine Funktion, so dass man mit dem Knopf X ein Auto starten, ein Ausweichmanöver einleiten oder den Sohn ohne Fernsehen ins Bett schicken kann.

Die Gedanken, Motive und Handlungsoptionen, die einem Menschen im Kopf herumschwirren, flattern als silbern glänzende Icons um den Kopf der Spielfigur herum - X, O, ? oder ?. Das innovative Interface erhöht nicht nur die Möglichkeiten des Autors ins Unendliche, sondern führt auch dazu, dass man als Spieler seine Entscheidungen überdenkt. In einem herkömmlichen Spiel tut man nur, was man tun muss. "Heavy Rain"lässt dem Spieler eine Wahl.

Am Ende steht die Frage: Was habe ich getan? Und: Was passiert jetzt?

"Ich konnte ihn nicht erschießen"

David Cage, so erzählt er, kam die Idee zu "Heavy Rain", als er vor einigen Jahren seinen Sohn in einem Einkaufszentrum verlor. Der Sog, den das Spiel nun zuweilen entwickelt, verdankt sich weniger der Animation oder dem 2000-seitigen Skript, sondern der Tatsache, dass Spielszenen regelmäßig Gefühle wie Unsicherheit, Scham, Sorge oder Stolz aktivieren, die man aus der Realität nur zu gut kennt.

In Internet-Foren finden sich bereits Kommentare von erfahrenen Spielern, die "sonst keine Probleme haben im Spiel ein paar Kopfschüsse zu verteilen", nun aber aufrichtig über den Tod einer Figur betrübt sind, oder verwundert schreiben: "Ich konnte ihn nicht erschießen."

Auf die Frage "Was bist du bereit zu tun?" findet eben jeder Spieler eine eigene Antwort - und macht sich so zum Komplizen des Autors. David Cage wünscht sich, dass die Konsumenten das Spiel "Heavy Rain" nur einmal spielen, dass der fluide Erzählraum nach dem einmaligen Durchschreiten zu einem abgeschlossenen Werk erstarrt. Aber auch das ist natürlich die Entscheidung des Spielers.

© SZ vom 27.02.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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