Videospiel "Deus Ex: Human Revolution":Cyborgs träumen anders

Lesezeit: 4 min

Videospiele sind zurzeit entweder stupide Klickorgien oder alberne Balance-Hampeleien. "Deus Ex: Human Revolution" ist anders und kein dumpfer Zeitvertreib: Es lässt einem immer wieder die Wahl, ob man sich als skrupellose Kampfmaschine oder als mitdenkender Altruist der Zukunft stellt.

Michael Moorstedt

Detroit im Jahr 2027. Die Stadt glüht in orangefarbenem Licht. Konzerne und Regierungen stehen sich auf Augenhöhe gegenüber und wie immer bleiben die Belange des Einzelnen auf der Strecke. Die Gesellschaft ist tief gespalten, oben herrscht ewiger Optimismus, unten das Elend. Straßenkampf und Partyspaß sind nur eine Ecke voneinander entfernt.

Computerspiel "Deus Ex"
:Halb Wesen, halb Überding

In der Welt von "Deus Ex: Human Revolution" steht der Mensch vor der Frage, ob es sich als Cyborg besser lebt. Doch diese Entscheidung trifft er nicht mehr allein, denn die Welt wird beherrscht von globalen Biotech-Konzernen.

Markus C. Schulte von Drach

Das ist die Welt von "Deus Ex: Human Revolution", einem der ambitioniertesten Videospiele der vergangenen Jahre. Als Spieler schlüpft man in die Rolle von Adam Jensen, Sicherheitschef von Sarif Industries, dem Marktführer in Sachen Körperaugmentierung, der biotechnischen Verbesserung des Menschen. Das Design des Spiels orientiert sich dabei mit dem düsteren Himmel, dem allgegenwärtigen Müll auf den Straßen, den Regenpfützen, in denen sich das Licht flackernder Neonreklamen spiegelt, an der Atmosphäre des Science-Fiction-Films "Blade Runner" aus dem Jahr 1982, dem ewigen Bezugspunkt des Cyberpunk-Genres.

Menschen tätscheln verliebt ihre Touchscreen-Zeitungen

Das Appartement von Adam Jensen wirkt mit dem trübe durch Jalousien scheinenden Licht ähnlich vernachlässigt wie das von Replikantenjäger Rick Deckard in "Blade Runner". In den Auslagen der Läden verheißen fiktive Markenprodukte kurzfristiges Glück, die Menschen tätscheln verliebt ihre Touchscreen-Zeitungen. All die Details lassen glauben, dass diese Welt schon bevölkert war, bevor man sie als Adam Jensen betritt, um ein für alle mal aufzuräumen.

Bei einem blutigen Anschlag einer Gruppe von Augmentierungsgegnern namens Purity first, verlor jener Jensen nicht nur seine Ex-Verlobte, sondern wird auch schwer verwundet. Nur dank der Implantate seines Arbeitgebers kann er überleben. Nun hat er statt seiner Arme zwei schwarz schimmernde Metallgliedmaßen am Körper befestigt, trägt Computerchips in Hirn und Augen, die ihn schneller denken und besser sehen lassen.

Genau wie in Ridley Scotts Verfilmung von Philip K. Dicks Roman "Träumen Androiden von elektrischen Schafen?" geht es auch in "Deus Ex" um komplexe bioethische Fragen: Was macht einen Menschen zum Menschen? Wann hört er auf, er selbst zu sein, und ist nur noch eine Maschine? Jensen ist irgendwo in der Mitte gefangen. Ohne es zu wollen ist er ist ein Cyborg geworden. Ein Rächer aus Stahl und Karbon, der sich aufmacht herauszufinden, wer wirklich hinter der Terrorattacke steckt. Doch die Augmentierungen verändern ihn, quälen ihn in seinen Träumen, in denen er mit Ikarusflügeln so hoch aufsteigt bis die Sonne seine Arme verbrennt.

Deus Ex" ist ein unzeitgemäßes Produkt. Branchenüblich werden die großen Titel in der Zeit von September bis kurz vor Weihnachten auf den Markt gebracht, auf der kürzlich in Köln zu Ende gegangenen Messe Gamescom konnte man sehen, was die Studios vorhaben. Zuletzt tendierte das Angebot stark zum sogenannten Casual Gaming. Damit sind entweder Balance-Hampeleien gemeint, die durch Infrarotkameras und Bewegungssensoren in den Spiel-Raum integriert werden. Oder stupide Klickorgien auf sozialen Netzwerken wie Facebook. Spielen heißt hier: dumpfer Zeitvertreib zur Betäubung der Langeweile.

Eine intellektuelle Auseinandersetzung zwischen Spieler und Plot findet hier nicht statt. Und auch die großen Studiotitel, zumeist Ego-Shooter, sind zwar technisch beeindruckend, strukturell aber verharren sie seit zehn Jahren auf dem gleichen Niveau. Egal ob Narration oder Spielmechanismen: Man wird immer unterfordert.

Computerspiel "Deus Ex"
:Halb Wesen, halb Überding

In der Welt von "Deus Ex: Human Revolution" steht der Mensch vor der Frage, ob es sich als Cyborg besser lebt. Doch diese Entscheidung trifft er nicht mehr allein, denn die Welt wird beherrscht von globalen Biotech-Konzernen.

Markus C. Schulte von Drach

Um "Deus Ex" durchzuspielen sind dagegen gut 35 Stunden nötig. So gut wie alle Objekte in der riesigen Spielwelt sind manipulierbar. "Schauen Sie über ihren Tellerrand heraus", fordert das Spiel immer wieder während der Ladesequenzen. Der Tellerrand hieß bei den meisten Spielen: Beseitigen sie jeden, der sich ihnen in den Weg stellt. "Deus Ex" lässt dem Spieler dagegen die Wahl, ob er sich bei Betreten der feindlichen Konzernzentrale durch die Lobby schmeicheln, durch Lüftungsschächte an den Wachen vorbei schleichen, die Sicherheitssysteme hacken oder doch mit blitzendem Mündungsfeuer einen Frontalangriff wagen will.

Die Freiheit der Wahl war eine Illusion

Die Gebrauchsanleitung, die jedem Videospiel beiliegt und darüber informiert, welcher Knopf in welcher Situation zu drücken ist, ist im Fall von "Deus Ex" keine Handreichung, sondern nicht mehr als ein vager Vorschlag. Doch es geht nicht nur darum, zu entscheiden, wie man spielen will, sondern auch, wie man die Implantate des Protagonisten interpretiert. Soll Adam Jensen lieber ein augmentierter Altruist sein, oder eine skrupellose Kampfmaschine, der die Upgrades jegliche Moral geraubt haben?

Auch früher schon haben Spiele verlangt, sich für eine Seite zu entscheiden. Meist verlief das durch ein simples Moralsystem, bei dem eine offensichtlich gute und eine böse Option zur Auswahl stand. Die Freiheit der Wahl war eine Illusion. Statt einem klaren System von Plotkreuzungen und Entscheidungsbäumen liefert "Deus Ex" eher eine sich biegende Storyline.

Das Spiel entwirft eine Zukunftsvision, die sich vom gegenwärtigen Standpunkt schon erahnen lässt. Vom heute, wo Sensorik-Chips auf Netzhäute verpflanzt werden. Wo IBM ein Modul vorgestellt hat, das die Arbeit von Gehirnzellen simulieren soll. Wo ein mit Unterschenkelprothesen ausgestatteter Sprinter bei der Leichtathletik-WM ins Halbfinale läuft. Und wo auch um die Zukunft einer Technologie gestritten wird, von der sich manche noch immer nicht sicher sind, ob sie dem Wohle der Menschheit dient und wie sie benutzt werden soll: dem Internet.

Um ihren visionären Anspruch zu belegen, haben die Spieledesigner zeitgleich mit "Deus Ex" eine Dokumentation über den Stand der intelligenten Prothesentechnik veröffentlicht. Sozusagen als wissenschaftlich unterfütterter Trailer. Gedreht wurde der Film passenderweise von dem kanadischen Filmemacher Rob Spence, der bei einem Unfall in seiner Kindheit sein rechtes Auge verloren hat. Seit einigen Jahren trägt Spence in der leeren rechten Augenhöhle eine drahtlose Miniaturkamera, mit der er seine Umgebung aufnimmt. Er nennt sich auch Eyeborg. Mit der Minikamera hat er auch die Dokumentation gedreht.

© SZ vom 06.09.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: